Urteilsverkündung in Istanbul - Steudtner sieht Prozess in der Türkei als politisches Instrument
In der Türkei wird am Freitag das Urteil über elf Menschenrechtsaktivisten erwartet, darunter auch Peter Steudtner. Der Berliner kann mit Freispruch rechnen. Ganz anders sieht es für die türkischen Angeklagten aus. Von Matthias Bertsch
Wenn am Freitag, den 3. Juli, in der Türkei das Urteil verkündet wird, ist es fast genau auf den Tag drei Jahre her, dass Peter Steudtner und zehn weitere Menschenrechtsaktivisten in Istanbul verhaftet wurden. Der Berliner Trainer für gewaltfreie Kommunikation hatte 2017 einen Workshop türkischer Menschenrechtsorganisationen auf der Insel Büyükada geleitet, bis die Polizei das Tagungshotel stürmte und mehrere türkische Menschenrechtsaktivisten festnahm. Der Vorwurf lautete: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
Doch während der Staatsanwalt im Fall Steudtner in seinem Plädoyer am Ende des Prozesses nun einen Freispruch beantragt, fordert er für andere Angeklagte wie den Ehrenvorsitzenden von Amnesty International in der Türkei, Taner Kilic, bis zu 15 Jahre Haft.
Für Steudtner ist diese Zweiteilung ein klares Zeichen für die politische Motivation hinter dem Prozess. "Die Repression richtet sich vor allem gegen die türkischen Menschenrechtsverteidiger, während wir beiden internationalen Leiter des Workshops, Ali Garavi aus Schweden und ich, freigesprochen werden sollen", sagte Steudtner am Dienstag bei einer Videokonferenz in Berlin. "Das zeigt, dass es unterschiedliche Strategien gibt: eine fürs Landesinnere und eine für die internationale Ebene."
Alle Beweise entkräftet
Die Anklage dagegen ist im Grunde immer die Gleiche – und sie steht in allen Fällen auf sehr wackligen Füßen. Das wurde im Verlauf des über zweijährigen Prozesses deutlich. Vor allem der Vorwurf, die Menschenrechtsaktivisten hätten versucht, über die sozialen Medien einen Umsturz in der Türkei vorzubereiten, habe der juristischen Prüfung nicht standgehalten, erklärt die Europa-Expertin bei Amnesty International in Deutschland, Janine Uhlmannsiek. "Alle Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft wurden umfassend entkräftet, sogar durch Beweise der türkischen Polizei. Es gibt einen Bericht der Polizei, der belegt, dass Tanar Kilic 'Bylock' nicht auf seinem Handy installiert hatte."
"Bylock" ist eine App, deren Nutzer aus Sicht der türkischen Behörden alle Gülen-Anhänger sind, also Angehörige jener Bewegung, die die Regierung in Ankara für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich macht. Doch Tatsachen spielen keine Rolle, wenn sie der Überzeugung widersprechen, so Uhlmannsiek. "Die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Schlussplädoyer an dem alten Vorwurf festgehalten, Kilic habe 'Bylock' genutzt - als hätte der gesamte Prozess gar nicht stattgefunden."
Altkanzler Schröder vermittelte
Während Taner Kilic über 400 Tage in Untersuchungshaft saß, wurde Peter Steudtner nach gut 100 Tagen aus der Haft entlassen. Sein Fall hat international viel Aufsehen erregt, und nach der Vermittlung von Altbundeskanzler Gerhard Schröder durfte der Menschenrechtstrainer nach Berlin zurückkehren. Dort war in der Gethsemane-Kirche regelmäßig für ihn und die anderen Inhaftierten gebetet worden. Neben der Gemeinde, in der Steudtner aktiv ist, hatten sich auch Politiker immer wieder an den Andachten beteiligt.
Freispruch als Minimum
Obwohl Steudtner mit einem Freispruch rechnen kann, hat er wenig Vertrauen in die türkische Justiz. Es gehe in dem Prozess nicht um Gerechtigkeit, sondern darum, "Menschenrechtsarbeit zu kriminalisieren und die Zivilgesellschaft mundtot zu machen", so der 48-Jährige. Der Urteilsverkündung sieht er mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. "Durch die Corona-Beschränkungen ist eine internationale Prozessbeobachtung erschwert. Dabei ist es gerade jetzt wichtig, dass dieser und andere Prozesse gegen die Menschenrechte nicht aus dem medialen und öffentlichen Blickfeld geraten."
Der Menschrechtstrainer würde zwar gern wieder einmal in die Türkei reisen, aber nur unter bestimmten Bedingungen: "Der Freispruch ist das Minimum, und zwar der Freispruch für alle elf Angeklagten." Doch auch im Falle eines Freispruchs bleibt die Erfahrung an die willkürliche Verhaftung vor drei Jahren. Die Menschenrechtssituation in der Türkei sei nach wie vor sehr instabil: "Es gibt Präzedenzfälle, wo Leute wieder aufgegriffen wurden, auch nachdem Freisprüche verhängt wurden, also ich denke, da werde ich sehr vorsichtig sein müssen."
Zunächst aber muss das Urteil erst einmal gefällt werden. In der Vergangenheit wurde es bereits mehrfach vertagt.
Sendung: Abendschau, 30.06.2020, 19:30 Uhr