Interview | Michael Müller fünf Jahre nach "Wir schaffen das" - "Wir haben immer noch was zu tun"

Mo 03.08.20 | 07:55 Uhr
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Bundesratspräsident Michael Müller (SPD) besucht das Flüchtlingslager Al-Asrak, Amman Jordanien. (Quelle: dpa/B. Pedersen)
Audio: Inforadio | 03.08.2020 | Interview Michael Müller / Jan Menzel | Bild: dpa/B. Pedersen

Es waren dramatische Wochen, als vor fünf Jahren Zehntausende Flüchtlinge nach Berlin kamen. Dank der Mithilfe der Bürger sei viel gelungen, aber es bleibe noch viel zu tun, sagt der Regierende Bürgermeister Michael Müller im rbb-Interview.

rbb: Herr Müller, "Wir schaffen das" war der historische Satz der Kanzlerin 2015. War Ihnen damals schon klar, was dieser Satz für eine Karriere nehmen würde?

Michael Müller: Das war mir nicht von Anfang an klar. Aber ich fand den Satz gut, weil er den Anspruch deutlich gemacht hat: Wir müssen gemeinsam etwas schaffen. Und wir wollen etwas gemeinsam schaffen. Dass die Umsetzung schwierig werden kann, war uns allen bewusst. Aber ich finde, unter dem Strich kann man sehr selbstbewusst sagen: Sehr gut, wie vielen Menschen Deutschland helfen konnte.

Archivbild: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußert sich während der Bundespressekonferenz zu aktuellen Themen der Innen- und Außenpolitik. Unter anderem sagte sie den Satz «Wir schaffen das.» in Bezug auf die nach Deuschland einreisenden Flüchtlinge. (Quelle: dpa/W. Kumm)
Bild: dpa/W. Kumm

"Wir schaffen das" passt nicht zu den Bildern, die 2015 von Berlin aus um die Welt gingen: das Chaos am LAGeSo, Menschenschlangen, Menschen, die Hunger hatten. Dachten Sie: Wir in Berlin schaffen das nicht?

Nein, diesen Gedanken gab es nicht. Ich wusste, dass es diese Bilder bundesweit gegeben hat. In den Wintermonaten gab es riesige Zeltstädte für Tausende Geflüchtete, weil einige Bundesländer es gar nicht anders bewältigen konnten als mit solchen Provisorien. In Berlin hatten wir dann andere Probleme in der Aufnahme. Aber es war ja von Anfang an zu spüren, dass es ganz viel Hilfsbereitschaft von Berlinerinnen und Berlinern gab, die unterstützt haben und dass wir immer besser wurden. Unter dem Strich haben wir dann 80.000 Menschen gut helfen können. Wir konnten medizinische Versorgung sicherstellen. Und wenn man dann immer bedenkt, aus welcher Situation die Menschen gekommen sind, dann war das eine große Hilfe, die auch hier in Berlin organisiert werden konnte.

Stimmt es, dass Sie damals öfter abends noch am LAGeSo vorbeigefahren sind, um zu gucken, wie es dort läuft?

Nicht regelmäßig. Ab und zu habe ich das gemacht, auch mit dem Privatwagen. Ich bin zu unterschiedlichen Zeiten abends um zehn, um zwölf, nachts um zwei vorbeigefahren und habe mir das angeguckt. Und es war schon erstaunlich, was man gesehen hat. Man hat zum Beispiel auch leere Busse der Hilfsorganisationen gesehen, wo Menschen im Trockenen und Warmen hätten warten können. Die Leute wurden stattdessen draußen vor den Bussen gesammelt. Oder Hilfslieferungen mit Kleidung wurden auf die nasse Straße gekippt. Für mich war es wichtig, das zu sehen. Weil ich dann am nächsten Tag auf Probleme aufmerksam machen konnte und nachgearbeitet habe, sodass wir Dinge auch verbessern konnten.

Michael Müller (l) und Mario Czaja schauen sich auf dem Gelände der ehemaligen Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne in Berlin-Spandau die Unterkünfte an (Quelle: dpa)
Müller mit dem damaligen Sozialsenator Czaja (rechts im Bild) in einem Zelt für Geflüchtete Bild: dpa

Der damalige Sozialsenator Mario Czaja stand als Krisenmanager in der Kritik. Sie haben ihn nicht entlassen. Wäre das im Rückblick besser gewesen?

Das kann man so oder so sehen. Es war eine Krisensituation, die sich entwickelt hat und wo ich schon erwartet habe, dass der Sozialsenator schneller und eindeutiger Dinge regelt und durchgreift im Interesse der Menschen, die aus bitterer Not zu uns gekommen sind. Letztendlich war es für mich dann die Abwägung, diese Krise in der damaligen Koalition gemeinsam gut zu bewältigen - statt sich durch eine Personalentscheidung mit sich selbst zu beschäftigen. Ich habe mich gegen eine Veränderung im Senat entschieden, weil das bedeutet hätte, dass wir über Tage oder Wochen über politische Themen reden und nicht darüber, wie wir Menschen gut helfen können. Das war mir wichtiger. Ich habe mir dann einen Krisenstab im Roten Rathaus eingerichtet mit dem früheren Polizeipräsidenten Dieter Glietsch. Der hat dann viele Koordinierungsaufgaben übernommen, die der Sozialsenator hätte übernehmen müssen.

Archivbild: Mehrere Doppelstockbetten stehen jeweils in den Familienquartieren für Flüchtlinge in einem Hangar im ehemaligen Flughafen Tempelhof. (Quelle: dpa/B. Jutrczenka)
Provisorische Flüchtlingsunterkunft in einem Hangar im Flughafen Tempelhof Bild: dpa/B. Jutrczenka

Jetzt hat Berlin ein Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten. Ist Berlin damit vor allem ähnlichen Chaos wie es seinerzeit ausbrach, gefeit?

Sie sagen auch immer noch Chaos, das sagt man sehr schnell. Und das hinterlässt schnell den Eindruck, das hätte alles auch ganz anders gehen können. Wer konnte sich weltweit darauf vorbereiten, dass innerhalb weniger Wochen 80.000 Menschen aus einem anderen Kulturraum kommen, mit anderen Sprachkenntnissen, mit besonderen medizinischen Erfordernissen, auf die man eingehen musste? Ich sage, es konnte sich niemand darauf vorbereiten. Vieles ist gut gelungen, manches hätte besser und schneller gelingen müssen. Stimmt. Aber unterm Strich hat sehr vieles gut funktioniert. Wir haben daraus gelernt. Bis heute ist es ein Tagesordnungspunkt im Senat, wie die Situation der Geflüchteten in unserer Stadt ist. Bis heute haben wir Kapazitäten freigehalten, falls wieder mehr Menschen zu uns kommen. Bis heute haben wir Verwaltungsstrukturen aufgebaut, die schneller reagieren können.

Es leben immer noch etwa 18.000 Menschen Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften. Da kann man sich nicht wirklich integrieren in einer Stadt. Hat es Berlin in diesem Punkt so halb geschafft oder ganz geschafft?

Umgekehrt kann man das auch beurteilen und sagen, dass 30.000 Menschen schon normalen Wohnraum gefunden haben. Das ist nicht so einfach in Berlin, und zwar für alle Menschen. Wir haben 30.000 Menschen Sprachkurse ermöglicht, 20.000 Kinder sind inzwischen nach den Willkommensklassen in der Regelbeschulung in normalen Schulklassen. Das sind wichtige Integrationsschritte. Es ist richtig: Wir haben immer noch was zu tun. Wir haben noch Menschen, die in Unterkünften sind, die aber parallel in Ausbildung sind oder geschult werden. Aber in der Wohnraumversorgung ist noch einiges zu tun.

Archivbild: Flüchtlinge protestieren an einem geschlossenen Grenzübergang für Züge an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien (Horgos). (Quelle: dpa/B. Mohai)
Bild: dpa/B. Mohai

Es gab damals das Argument, dass die Menschen dringend benötigte Arbeitskräfte seien, gerade in einer so überalterten Gesellschaft wie der unsrigen. Heute wissen wir, dass rund ein Drittel der Geflüchteten einen Job gefunden hat. Würden Sie da sagen, nur ein Drittel oder immerhin ein Drittel?

Immerhin ein Drittel. Denn es ist ja tatsächlich so, dass ja auch viele Schwierigkeiten gemeinsam zu bewältigen waren vom Arbeitgeber wie von dem geflüchteten Menschen. Kulturelle und sprachliche Barrieren mussten überwunden werden. Es mussten die Gelegenheiten gefunden werden: Wo können die Menschen sehr gut und sehr schnell Fuß fassen? Die Arbeitgeber waren gar nicht darauf eingestellt, mit Syrern als Arbeitskräfte zu rechnen, sondern hatten andere Pläne. Da haben die Kammern und die Verbände schnell geholfen mit eigenen Ausbildungsprogrammen, damit die Menschen jetzt ihren Weg machen auf Grund ihrer eigenen Arbeit. Ich finde, dass ist ein großer Erfolg.

Archivbild: Flüchtlinge stehen am 26.10.2015 vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin, während Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma die Warteschlangen organisieren. (Quelle: dpa/M. Kappeler)
Geflüchtete stehen im Oktober 2015 bei LaGeSo in Berlin an.Bild: dpa/M. Kappeler

Corona macht das jetzt alles kaputt, weil viele Geflüchtete im Niedriglohnbereich tätig sind und diese Jobs zuallererst gefährdet sind?

Corona ist insgesamt für diese Bereiche ein großes Problem. Es gibt sehr viele Menschen, die Arbeitsverträge haben, wo sie nicht gut verdienen, im Dienstleistungs- und Gastronomiebereich zum Beispiel. Davon sind viele Geflüchtete betroffen. Aber da ist eine soziale und Arbeitsmarktsituation, die wir insgesamt bewältigen müssen. Wenn wir zum Beispiel darüber reden, wie die Pflegekräfte besser entlohnt werden sollen in Zukunft. Das sind Dinge unabhängig von Corona, die auf unserer Agenda sind. Corona verschärft jetzt allerdings mitunter die Situation.

rbb|24 hat recherchiert, dass derzeit nur 80 Prozent der Geflüchteten einen Integrationskurs besuchen, obwohl anders als in den Vorjahren das Angebot da wäre. Muss man eindringlicher dafür werben, dass das nicht freiwillig ist?

Ja, das muss man schon machen. Und man muss es vor Ort machen in den in den Unterkünften. Man kann es über die Stadtteilarbeit machen, über die Bezirksämter, auch über den Senat. Ich will mich da überhaupt nicht aus der Pflicht nehmen, dass wir auch auf Landesebene immer wieder deutlich machen müssen. Die Angebote sind da. Und wer den Wunsch hat, hier langfristig dauerhaft zu leben und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, der muss die Sprache lernen. Es wird keinen anderen Weg geben.

Berlin bemüht sich seit Monaten darum, Flüchtlingskinder aus den griechischen Lagern herauszuholen. Ihr Innensenator Andreas Geisel setzt sich immer wieder dafür ein und wird vom Innenministerium abgebügelt. Wie wütend macht Sie das?

Das macht uns alle im Senat sehr wütend. Und ich habe dafür auch nicht das geringste Verständnis, dass es so eine Blockade von Seiten des Bundesinnenministers gibt. Denn wir empfinden es als unsere soziale Pflicht, Menschen zu helfen im Rahmen unserer Möglichkeiten.

Wir können nicht jeden aufnehmen, das habe ich immer gesagt. Aber wir können vielen helfen, wir haben die Möglichkeiten dafür. Trotz Corona leben wir in einem reichen und guten Land und können Menschen vor Not und Tod auch bewahren. Und wir sind bereit dazu - gemeinsam mit den anderen Stadtstaaten und anderen Bundesländern, die sich uns angeschlossen haben. Wir haben gesagt, mindestens 300 Geflüchtete können wir gut versorgen. Diese ungute Situation mit einer Blockade aus dem Innenministerium ist für uns alle nicht nachvollziehbar.

Archivbild: Zahlreiche Betten stehen am 12.09.2015 in Berlin in einer großen Sporthalle am Olympiapark im Stadtteil Charlottenburg für die Unterbringung von Flüchtlingen. (Quelle: dpa/K. Nietfeld)Zahlreiche Betten stehen im September 2015 in einer Sporthalle im Berliner Olympiapark bereit.

Es gibt Forderungen, Innenminister Horst Seehofer juristisch dazu zu bringen, doch zuzustimmen. Was halten Sie von diesem Weg?

Ich bin gar nicht sicher, ob das überhaupt juristisch geht. Dass die eine Staatsebene praktisch gegen die andere klagt auf Aufnahme von Flüchtlingen. Aber das ist auch, glaube ich, nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist die politische Diskussion und die politische Auseinandersetzung und auch der öffentliche Diskurs. Wir haben erlebt, wie viele Menschen in unserem Land helfen wollen. Sie tun viel dafür, um Menschen vor dem Tod zu bewahren und sie aus diesen unwürdigen Verhältnissen von den griechischen Inseln zu bekommen. Wenn ein Bundesminister dann sagt, er hat Kontingente, und darüber hinaus kann und will er nichts machen, dann ist das ein politischer und nicht ein juristischer Skandal, den man aufgreifen muss.

Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch.

Dieser Text ist eine gekürzte und redigierte Fassung eines Gesprächs, das Jan Menzel mit Michael Müller für Inforadio geführt hat. Das komplette Interview können Sie oben im Beitrag im Audio hören.

Sendung: Inforadio, 03.08.2020, 09:45 Uhr.

7 Kommentare

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  1. 7.

    "Corona macht das jetzt alles kaputt, weil viele Geflüchtete im Niedriglohnbereich tätig sind und diese Jobs zuallererst gefährdet sind?"

    Nö, die sind schlau und fangen bei Amazon an, ich freue mich jedenfalls über meinen Lieferungen.

  2. 6.

    Da man als junger Mensch relativ schnell Sprachen lernt, müssten die Flüchtlinge jetzt gutes Deutsch sprechen.
    Dieses als Vorwand für Arbeitslosigkeit zu begründen, ist Quatsch.
    Man hätte die Flüchtlinge sofort arbeiten lassen müssen - und keine staatliche Rundumversorgung.
    Dann wären einige Probleme nie entstanden.

  3. 5.

    Wieviele der Jobs sind Vollzeit und über dem Mindestlohn?

  4. 3.

    Hat der rbb auch recherchiert, wieviel Prozent den Integrationskurs auch erfolgreich abschließen?
    Und in welchen Jobs die Geflüchteten genau arbeiten?

  5. 2.

    Hallo ?
    Ihr habt noch was zu tun ?
    Habt ihr denn schon angefangen ?

  6. 1.

    "rbb|24 hat recherchiert, dass derzeit nur 80 Prozent der Geflüchteten einen Integrationskurs besuchen, obwohl anders als in den Vorjahren das Angebot da wäre."

    Wär doch mal interessant zu wissen, was die 20%, die keinen Integrationskurs besuchen so tagsüber machen.

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