Belarussen in Berlin protestieren - Mit Kunstblut und Sprechchören gegen Lukaschenko

In Belarus gehen tausende Menschen auf die Straße, um gegen die umstrittenen Ergebnisse der Präsidentenwahl zu protestieren. Das Regime reagiert mit Verhaftungen und Gewalt. Die in Berlin lebenden Belarussen setzen dagegen ein Zeichen. Von Raphael Jung
"Жыве Беларусь! - Es lebe Belarus!" Dieser Ruf erschallt inmitten der Hochhäuser des Potsdamer Platzes. Zwischen zwei Mauerteilen haben sich rund 70 Belarussen zu einer Kundgebung versammelt. Sie tragen weiße T-Shirts, einige haben Gesichter und Hände mit Kunstblut beschmiert. Viele recken selbst gebastelte Transparente in Luft. Darauf stehen Losungen wie: "Belarus blutet", Lukaschenko go away", "Stop Terror".
Es sind junge Leute zwischen 20 und Mitte 30, die im Zentrum von Berlin auf die Ereignisse in ihrer Heimat aufmerksam machen wollen. Belarus - ein Land, das hier kaum jemand kennt, und das meist nur in Verbindung mit der Schlagzeile "Die letzte Diktatur Europas" genannt wird. Niemand von denen, die an diesem Dienstagabend zur Kundgebung auf den Potsdamer Platz gekommen sind, will sich damit länger abfinden.
"Wir wissen alle: Die Wahlen wurden gefälscht!"
Anna Shkor, eine junge Frau mit schulterlangem braunem Haar tritt vor die Gruppe. Sie ruft: "Wir wissen alle: Die Wahlen wurden gefälscht. Dieser Präsident ist nicht unser Präsident! Wir wissen nicht, wie viele schon gestorben sind. Lukaschenko hat die Waffen gegen das eigene Volk gerichtet. Wir können nicht zu unseren Familien und mit ihnen zusammen kämpfen, aber wir sind hier." Es gibt Applaus, denn Anna spricht vielen aus dem Herzen. Jeder hier hat eine Geschichte und Sorgen, auch Anna.
Sie ist 30 Jahre alt und kennt, wie viele junge Belarussen, keinen anderen Präsidenten als Alexander Lukaschenko. Der regiert das Land seit 1994 mit harter Hand. 80,23 Prozent der Weißrussen sollen am vergangenen Sonntag für ihn gestimmt haben, so das offizielle Ergebnis der Präsidentenwahl. Gegen dieses Wahlergebnis gehen seit Sonntag jeden Abend tausende Belarussen auch die Straße - auch Anna Shkors kleiner Bruder und ihr Stiefvater.
Annas Vater wurde festgenommen
Anders als in Berlin ist das Demonstrieren in Belarus gefährlich. In Internet-Videos ist zu sehen, wie der Sicherheitsdienst wahllos auf unbewaffnete Demonstranten einprügelt. Tausende wurden bereits verhaftet. Von der letzten Demonstration kehrte auch Annas Stiefvater nicht zurück. "Wir haben gehofft, dass man ihn aus der Stadt gebracht und dann freigelassen hat", erzählt sie. "Aber bis jetzt haben wir keine Nachrichten von ihm und wissen nicht, was mit ihm passiert." Anna hofft, dass es ihm gut geht. Doch es ist möglich, dass er schwer verprügelt wurde. Aus Berichten von anderen weiß sie, dass verhaftete Demonstranten der Willkür der Beamten schutzlos ausgeliefert sind.

"Ich habe in den letzten Tagen sehr viel geweint"
Sorgen um ihre Freunde macht sich auch Uladzislawa Sucharava, die in Deutschland studiert. "Ich habe in den letzten Tagen sehr viel geweint", erzählt die 21-Jährige. Wegen der Ereignisse in Belarus gehe es ihr emotional schlecht, sie könne kaum schlafen. Viele junge Belarussen verfolgen in der Nacht die Proteste in Belarus quasi live - über den Telegram-Kanal "Nexta", der inzwischen über 1,5 Millionen Abonnenten zählt. Sie gehe ins Bett, wenn die Proteste beendet sind und stehe auf, so früh es geht, um nichts zu verpassen, erzählt Uladzislawa. "Ich habe Menschen in Minsk, die auf die Straße gehen, meine Verwandten und meine Freunde - und ich habe Angst um diese Menschen."
"Belarus braucht Demokratie, braucht Freiheit"
Mit kurzfristig organisierten Kundgebungen wie der am Potsdamer Platz wollen sich die in Berlin lebenden Belarussen Mut machen. Sich zu treffen und gemeinsam ein Zeichen zu setzen, hilft ihnen, sich weniger allein fühlen – in einer Zeit, in der ihr Heimatland von Protesten und Polizeigewalt erschüttert wird. Aber ihre Aktion ziele auch drauf ab, dass mehr Menschen überhaupt von Belarus erfahren, sagt der Software-Entwickler Klim Kavaliou: "Belarus braucht Demokratie, braucht Freiheit. Lukaschenko muss gehen. Wir möchten der Welt zeigen, dass gerade etwas Unglaubliches passiert in Weißrussland."

Kavaliou hofft, dass einflussreiche politische Stimmen in Deutschland und aus Europa die Gewalt des Lukaschenko-Regimes verurteilen – und so dabei helfen, einen Wandel in Belarus herbeizuführen.
Anna Shkor ist sich sicher, dass die belarussische Gesellschaft aufgewacht sei. Die aktuellen Proteste seien auf kurz oder lang der Anfang vom Ende des Lukaschenko-Regimes. "Man muss es stoppen, es kann nicht so weiter gehen", sagt Shkor. "Wir leben schon 26 Jahre unter einer Diktatur - das muss sich endlich ändern." Deshalb wird sie auch heute wieder auf dem Potsdamer Platz demonstrieren.
Sendung: