Interview | 70 Jahre Zentralrat der Juden - "Es geht generell um die Frage der Akzeptanz von Minderheiten"
Über 100 jüdische Gemeinden vertritt der Zentralrat der Juden in Deutschland, auch in Berlin und Brandenburg. Doch nicht für alle in Deutschland ist jüdisches Leben selbstverständlich. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats, über Erfahrungen von Antisemitismus und Solidarität.
rbb: Herr Schuster, der Zentralrats der Juden in Deutschland feiert sein 70. Bestehen als Dachorganisation der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland. Wie hat sich der Verband über die Zeit verändert?
Josef Schuster: Was sich in dieser Zeit besonders verändert hat, ist, dass der Zentralrat - die Dachorganisation aller jüdischen Gemeinden - völlig unabhängig von ihren Denominationen [Religionsgemeinschaften, Anm.d.Red.] ist. Man hatte vor 70 Jahren zunächst nur traditionelle jüdische Gemeinden. Wir haben heute auch wieder ein liberales Judentum in Deutschland. Alle diese Gemeinden sind unter dem Dach des Zentralrats.
Vor allem sind die jüdischen Gemeinden sehr viel größer geworden. Ist auch das ein Grund zum Feiern?
Das wäre jetzt nicht unbedingt zwingend ein Grund zum Feiern. Aber es ist ein absolut positiver Effekt. Nach der Shoah [nationalsozialistischer Völkermord an den Juden Europas, Anm.d.Red.] waren zunächst zwar Juden in Deutschland hängengeblieben. Ein ganz erheblicher Anteil ist jedoch weitergezogen, sei es nach Israel, in die USA, nach Südafrika. Auch international war es nicht en vogue, als Jude in Deutschland nach der Shoah zu leben. Das hat sich deutlich geändert. Für jüdische Menschen außerhalb Deutschlands ist es heute selbstverständlich, dass es wieder eine jüdische Gemeinschaft in Deutschland gibt.
Und in Deutschland selbst?
In Deutschland habe ich das Gefühl, dass es leider noch nicht quer durch die Bevölkerung als selbstverständlich angesehen wird, dass es jüdisches Leben in Deutschland gibt. Dabei gibt es in Deutschland seit 1700 Jahren jüdische Gemeinden. Also sollte es eigentlich etwas Selbstverständliches sein.
Was vermittelt ihnen den Eindruck, dass dem nicht so ist?
Wenn ich anti-jüdische Mails bekomme, wenn ich antisemitische Zuschriften bekomme, wenn ich so manche Äußerungen auch am Stammtisch mitbekomme - dann muss man sagen, dass es sehr viele Ressentiments gegen Juden gibt. Auch aktuell bei den Verschwörungsmythen in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gibt es wieder die Thesen, dass Juden dafür verantwortlich seien, aus allerlei Gründen. Das Ganze erinnert mich ans Mittelalter, als es um die Brunnenvergiftungen und die Pest ging.
Sie sagen, jüdisches Leben in Deutschland ist zumindest selbstverständlicher geworden. Welche Rolle für dieses Gefühl spielt der Anschlag auf die Synagoge in Halle?
Das ist ein massiver Rückschlag. Aber wir wissen seit Jahrzehnten, dass etwa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung Vorurteile gegen Juden haben. Auf der anderen Seite haben 80 Prozent offensichtlich keine Vorurteile gegen Juden. In den letzten Jahren wird allerdings wieder deutlich offener gehetzt, auch mit Thesen wie einer notwendigen Wende der Erinnerungskultur um 180 Grad, Begriffen wie "Mahnmal der Schande". Es gibt ja eine Partei im Deutschen Bundestag, deren führenden Repräsentanten sich nicht vor solchen Äußerungen scheuen. Und aus Worten folgen Taten. Das haben wir nicht nur in Halle, sondern genauso in Hanau, aber auch bei der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke leider erleben müssen.
Gleichzeitig gab es sehr viele Solidaritätsbekundungen in der Politik, aber auch in der breiten Bevölkerung. Die Bundesregierung hat mittlerweile einen Antisemitismusbeauftragten. So erschreckend dieser Anschlag war - wie wichtig ist umgekehrt die Rückversicherung vieler, die sagen: Ihr gehört dazu, und wir stehen auf eurer Seite?
Das ist ganz wichtig. Ich kann sagen, dass im Oktober des vergangenen Jahres - nach dem Anschlag von Halle - eine Welle der Solidarität zu bemerken war, die nach der Shoah ihresgleichen suchen kann. Darum habe ich auch ausdrücklich gesagt, dass ich von 80 Prozent ausgehe. Und das ist ja immer noch die weitaus größte Mehrheit der Bevölkerung.
Seit knapp sechs Jahren sind Sie jetzt Zentralratsvorsitzender. Mahnen und den Finger in die Wunde legen, das ist ein Teil Ihrer Jobbeschreibung. Sie haben gerade selbst gesagt: An den Zahlen zum Antisemitismus ändert sich wenig, schon gar nicht in diesen wenigen Jahren. Was motiviert Sie, immer wieder Ihre Stimme zu erheben?
Als ich angetreten bin, habe ich gesagt, ich hoffe, dass ich eigentlich viel mehr auf die positiven Seiten hinweisen kann: auf jüdische Tradition, auf jüdisches Leben, auf die jüdischen Feiertage. Dass das eine Utopie ist, muss ich ehrlich sagen, hab ich mir vor sechs Jahren auch gedacht. Dazu kenne ich die Tätigkeiten meiner Amtsvorgänger zu gut. Und trotzdem halte ich es für wichtig. Es geht ja nicht nur hier um Judentum und jüdisches Leben. Es geht generell um die Frage der Akzeptanz von Minderheiten und auch darum, entsprechende klare Position zu beziehen gegen Rassismus jeder Art.
Vielen Dank für das Gespräch.
Mit Josef Schuster sprach Dörthe Nath für Inforadio. Dieser Beitrag ist eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Version. Das Originalinterview können Sie mit Klick auf das Audiosymbol im Header des Artikels nachhören.