Geplante Mindestmengen-Regelung - Berliner Chefärzte kritisieren Frühgeborenen-Studie

Expertenstreit über das Schicksal der Allerkleinsten: Drei Chefärzte kleinerer Berliner Kinderkliniken kritisieren eine am Montag veröffentlichte Studie, wonach die Sterblichkeit von extrem früh Geborenen in kleinen Kliniken höher liege. Von Dominik Wurnig
Die Chefärzte drei kleiner Berliner Kinderkliniken – Beatrix Schmidt vom St. Joseph Krankenhaus, Frank Jochum vom Evangelischen Waldkrankenhaus Spandau sowie Arpard von Moers von den DRK Kliniken Westend – kritisieren in einer schriftlichen Stellungnahme eine am Montag erschienene Studie als "unklar".
Wie der rbb berichtetete, belegt die in einer Fachzeitschrift veröffentlichte Studie von Heller und anderen, dass Frühgeborene unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht eine geringere Sterblichkeit haben, wenn sie in Krankenhäusern versorgt werden, die das 50 bis 60 Mal pro Jahr durchführen. Also im Schnitt ein so kleines Frühgeborenes pro Woche versorgen.
Die Kritiker fordern, dass "Veränderungen im deutschen System (der Frühgeborenenversorgung, Anm.d.Red.) mit äußerster Zurückhaltung und ohnehin nur aufgrund exzellenter Datengrundlage erfolgen sollten, um negative Auswirkungen auf die Behandlungsqualität zu vermeiden und eine wohnortnahe Versorgung zu gewährleisten", wie es in der Stellungnahme heißt.
Alle Seiten wollen nur das Beste für die allerkleinsten Babys, die bei der Geburt weniger als 1.250 Gramm wiegen. Aber was das Beste ist, darüber ist Streit unter Fachleuten in Berlin und Brandenburg neu entfacht. Im Kern geht es um die Frage, wer die allerkleinsten Patienten behandeln darf: die großen Spezialkrankenhäuser oder eben auch die kleinen Kliniken in der Fläche. Oder aus der Perspektive der Familien: Soll mein Kind im Spezialkrankenhaus in der eine Stunde entfernten Großstadt oder im nahe gelegenen Landkreiskrankenhaus behandelt werden?
Wer darf die Allerkleinsten behandeln?
Derzeit berät der sogenannte Gemeinsame Bundesausschuss über eine Anhebung der Mindestmengen-Fallzahl. Dadurch könnte diese - auch lukrative – Patientengruppe für kleinere Perinatalzentren verloren gehen. Kommt die Anhebung der Mindestmenge, müssten frühe Frühgeborene – bzw. idealerweise die werdenden Mütter – dann in große Vollversorger-Krankenhäuser, wie etwa die Berliner Charité, verlegt werden.
Die drei Kinderärzte Schmidt, Jochum und Von Moers repräsentieren ebensolche kleineren Krankenhäuser, die bei einer entsprechenden Anpassung verlieren könnten. "Viele kleinere Perinatalzentren zeigen weiterhin eine überdurchschnittliche Ergebnisqualität", schreiben die drei Chefärzte in ihrer Stellungnahme. "Hohe Fallzahlen sind kein Garant für hohe Qualität. Durch eine Erhöhung der Mindestmenge würden gute (kleinere) Behandlungszentren aus der Versorgung genommen, während größere, qualitativ aber zum Teil schlechtere Zentren sogar noch mehr Patienten erhielten", schreiben die drei Kritiker ohne aktuelle Belege zu liefern. "Dies würde dazu führen, dass die Behandlungsqualität insgesamt sinkt."

Ungewöhnliche Kollegenschelte über die Medien
Die Erstunterzeichnerin Schmidt kämpft schon lange dafür, dass nicht nur die großen, öffentlichen Häuser kleine Frühgeborene behandeln dürfen. Gemeinsam mit 23 anderen Krankenhäusern erkämpfte das St. Joseph Krankenhaus 2012 erfolgreich vor Gericht die Abschaffung der Mindestfallzahl von 30. Die Begründung des Bundessozialgerichts damals: Die wissenschaftlichen Beweise für die Mindestmenge von 30 fehle. Die Studienautoren waren jetzt mit dem Ziel angetreten, genau diesen geforderten Beweis zu erbringen.
"Die Autoren der neuen Publikation unterstützten im Übrigen bereits damals diesen ersten Versuch, die Mindestmenge zu erhöhen", heißt es in der Stellungnahme der drei Chefärzte weiter. Mit der ungewöhnlich öffentlichen Kritik greifen die drei Kinderärzte direkt einen ihrer Kollegen an: Rainer Rossi, Chefarzt am Klinikum Neukölln, ist Co-Autor der Studie. Rossi hält seinen Kritikern entgegen: "Es ist weltweit immer wieder ein Zusammenhang von Leistungsvolumen und Überlebensrate beschrieben worden. Nirgends hingegen hat es Publikationen gegeben, die das Umgekehrte zeigen: bessere Ergebnisse in kleinen Kliniken."
Alternative zur Mindestmengen-Regelung gefordert
Für die Chefärztin Schmidt ist der Weg über die Quantität (also die Mindestmenge) der falsche Ansatz. "Viel wichtiger wäre es, sich um Qualität zu kümmern und nach Best-Practice-Beispielen zu gehen. Wir müssen schauen: Wo werden die Kinder gut versorgt? Was machen die anders?", sagt die Leiterin der Kindermedizin dem rbb. In der Neonatologie am St. Joseph gebe es etwa besonders viele Rooming-in-Zimmer, wo Mütter und auch Väter, mit ihrem Kind über Wochen im Krankenhaus übernachten können. "Weil die Mütter so toll mitmachen, können wir unsere Kinder oft schon sehr früh entlassen", sagt Schmidt. "Ich möchte, dass man Qualitätsindikatoren entwickelt und nicht nur auf die Überlebensrate schaut, um die Versorgung der Frühgeborenen zu verbessern, anstatt auf die Mindestmenge abzuzielen." Wenn man versuche, Qualität über die Menge zu regeln, sollte man Schmidt zufolge eher eine Mindestzahl an Geburten einführen.

Dünne Versorgung in Nord-Brandenburg
Was anderen Krankenhäusern blüht, hat das Klinikum Barnim bereits hinter sich: Das Krankenhaus in Eberswalde hat den Status als Perinatalzentrum Level 2 kürzlich verloren und darf nun auch keine Frühgeborene unter 1.500 Gramm mehr behandeln. Warum das für das Krankenhaus aber wichtig wäre: "Weil wir es den Familien unserer Region anbieten wollen, vielleicht sogar, weil wir es Ihnen schuldig sind! Unser Versorgungsauftrag ergibt sich aus der geographischen Lage", sagt der dortige Chefarzt der Kinderklinik, Dieter Hüseman.
Der Statusverlust mache es auch schwerer, gut ausgebildetes Fachpersonal – vor allem in der Pflege – zu halten bzw. anzuziehen. "Die Kostenträger (gemeint sind die Krankenkassen, Anm.d.Red) glauben, durch solche Rechen- und Gedankenspiele Nutzen zu ziehen; für Schwangere und kranke Neugeborene im Flächenland Brandenburg wird dadurch vieles schlechter", kritisiert Hüseman die Studie. "Man wird nicht alle Neugeborenen-Notfälle und Frühgeborenen aus Templin, Prenzlau oder Elsterwerda rechtzeitig in die Charité bringen können", sagt er. Doch wenn die Zentralisierung voranschreite, fehle es gerade in Krankenhäusern in der Fläche zunehmend an Kompetenz und spezifischem Fachpersonal.
Sanktionen bei hoher Sterblichkeit
Für den Chefarzt, der früher an der Charité im Virchow Klinikum Oberarzt war, liegt die Lösung nicht in der Schließung der kleineren Zentren. "Stattdessen sollte man gezielt auf die Zentren mit überdurchschnittlich hoher Sterblichkeit zugehen und dort die Ursachen dafür feststellen und beseitigen, notfalls mit Hilfe von Sanktionen." In Berlin und Brandenburg würden sonst die Standorte mit der besten Überlebensrate geschlossen.
Es sei dringend notwendig, die Aufgabenzuordnung für die Perinatalzentren dahingehend zu verändern, dass die wenigen extrem kleinen Frühgeborenen mit weniger als 26 Schwangerschaftswochen nur an ganz wenigen Zentren versorgt werden, sagt Hüseman. "Damit die dafür genügend Raum und Personal haben, müssen die etwas reiferen Frühchen wohnortnah in weiteren Zentren versorgt werden können."