Verfassungsschutz stellt Lagebild vor - Berlin meldet 53 Verdachtsfälle von Rechtsextremismus in der Polizei, Brandenburg 18

Zum ersten Mal überhaupt hat sich der Verfassungsschutz mit Rechtsextremisten in der Polizei beschäftigt und Meldungen aus Polizeistellen von Bund und Ländern zusammengetragen. Unklar ist allerdings, wie vollständig das Lagebild ist.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat bei der Polizei in Bund und in den Ländern 377 Verdachtsfälle von Rechtsextremismus registriert. Diese Zahl geht aus einem Lagebericht hervor, den Bundes-Innenminister Horst Seehofer (CSU) am Dienstag in Berlin vorgestellt hat. Demnach gab es 53 solcher Verdachtsfälle in Berlin und 18 in Brandenburg. Die Hauptstadt liegt damit neben Hessen und Nordrhein-Westfalen an der Spitze.
Es ist das erste Mal überhaupt, dass der Verfassungsschutz einen Lagebericht vorlegt, der sich gezielt mit Rechtsextremisten in der Polizei und bei anderen Sicherheitsbehörden beschäftigt. Mehr als eine Annäherung an das Problem stellt diese Bestandsaufnahme allerdings nicht dar, wie die Behörde selbst einräumt. "Auch wenn die absoluten Zahlen dieser Verfehlungen in Relation zur Gesamtzahl der Beschäftigten bei den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern gering sind, ist grundsätzlich von einem Dunkelfeld auszugehen", heißt es im Bericht.
Geisel: "Ohne Zweifel 53 Fälle zu viel"
"Wir können nicht zulassen, dass extremistische Einzelne die hervorragende Arbeit der überwältigenden Mehrheit in Misskredit bringen", sagte der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) am Dienstag. 53 Verdachtsfälle in der Berliner Polizei seien "ohne Zweifel 53 Fälle zu viel". Dass sie bekannt geworden seien, bedeute aber auch, dass man bei der Berliner Polizei genau hinschaue und und extremistischen Vorfällen konsequent entgegentrete. "Ich würde mir wünschen, dass alle Bundesländer so offen und transparent damit umgehen wie Berlin", so Geisel. Vor Kurzem war bekannt geworden, dass sich Berliner Polizisten in einer Chatgruppe regelmäßig rassistisch geäußert haben sollen. Auch in NRW und in Mecklenburg Vorpommern sind Polizeichats mit rechtsextremen Inhalten inzwischen aktenkundig. Diese Fälle sind nicht in das Lagebild aufgenommen worden, die Befragung des Verfassungsschutzes reichte bis März.
In Brandenburg laufen wegen des Verdachts auf Rechtsextremismus derzeit zwölf Disziplinarverfahren. Drei Anwärter wurden in den vergangenen drei Jahren entlassen oder nicht zu Beamten ernannt. Drei weitere Verfahren wurden eingestellt. Die Landesvorsitzende der Grünen, Julia Schmidt, sagte der Bericht müsse eine Warnung sein.
Lagebild mit freiwilligen Meldungen
Für den Lagebericht hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz freiwillige Meldungen der Landespolizeistellen zusammengetragen [verfassungsschutz.de]. Gezählt wurden Fälle, die innerhalb der Polizeistellen bereits bekannt geworden waren, Befragungen einzelner Polizisten oder leitdenden Beamten zur Ermittlung möglicher weiterer Verdachtsfälle gab es nicht.
Eine Studie externer Wissenschaftler über Rechtsextremismus in der Polizei, wie sie verschiedene Experten, Innensenator Geisel, die SPD im Bundestag und Teile der Opposition fordern, lehnt Bundes-Innenminister Seehofer weiterhin ab. Auch der brandenburgische Innenminister Michael Stübgen (CDU) sprach sich gegen eine solche Studie aus.
Organisationen fordern Beschwerdestellen
Nach der Vorstellung des Berichts forderte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International unabhängige Stellen für Beschwerden und Meldungen. Jenseits aller Diskussion über das Ausmaß mache der Bericht deutlich, dass es Handlungsbedarf gebe, sagte der deutsche Generaldirektor Markus N. Beeko. Er forderte Beschwerdestellen für Opfer rassistischen Polizeiverhaltens und Meldestellen für anonyme Hinweise von Polizisten. Beide sollen nach seiner Vorstellung unabhängig sein.
Die Amadeu-Antonio-Stiftung erneuerte ihre Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung. Der Lagebericht des Verfassungsschutzes fasse nur bekannte Fälle zusammen. Das Dunkelfeld bleibe bestehen, sagte Geschäftsführer Timo Reinfrank. Auch er forderte eine Beschwerdestelle für Betroffene.
Sendung: Inforadio, 06.10.2020, 19 Uhr