Neue Mindestmengen-Regelung - Bessere Versorgung für extrem kleine Frühgeborene beschlossen

Extrem kleine Frühchen dürfen in Zukunft nur noch in wenigen Spezialkliniken versorgt werden. Kein einziges Brandenburger Krankenhaus überschreitet die neue Mindestbehandlungszahl. Weitere Wege sind aber dennoch gute Nachrichten für Schwangere. Von Dominik Wurnig
Krankenhäuser dürfen in Zukunft extrem kleine Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1.250 Gramm nur noch versorgen, wenn sie jährlich mindestens 25 solcher Patienten behandeln. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat die Anhebung der sogenannten Mindestmengenregel am Donnerstag von 14 auf 25 Fälle pro Jahr beschlossen.
Rainer Rossi, Leiter der Neonatologie am Klinikum Neukölln in Berlin, hält die Anhebung für "überfällig". "Eine Vielzahl nationaler und internationaler Publikationen hat immer wieder einen Zusammenhang zwischen Patientenzahl und Ergebnisqualität aufgezeigt," sagt Rossi. Die Versorgung in hochspezialisierten Zentrum soll dafür sorgen, dass mehr Kinder überleben, es zu weniger Komplikationen kommt und die Kinder seltener mit bleibenden Schäden zu kämpfen haben.
Jedes hundertste Kind
Etwa jedes zehnte Kind kommt zu früh, etwa jedes hundertste Kind ist ein extrem leichtes Frühchen mit weniger als 1.250 Gramm bei der Geburt. Typischerweise werden sie vor der 28. Schwangerschaftswoche geboren und benötigen rund um die Uhr hochspezialisierte medizinische Betreuung und Pflege. Diese Kinder - und meist auch ihre Mütter oder Väter - verbringen in der Regel die ersten drei Lebensmonate auf einer Intensivstation.
Laut Auskunft der AOK Nordost bekommen Kliniken im Durchschnitt rund 79.000 Euro erstattet für die Behandlung eines Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1.250 Gramm.
Zahl der behandelnden Kliniken wird sinken
Momentan versorgen zwölf Kliniken in der Region Berlin-Brandenburg extrem kleine Frühchen - in der Zukunft werden es wohl weniger werden. Die neue Regelung tritt am 1.1.2021 in Kraft, greift aber erst nach einer Übergangsfrist ab 2024. Bis dahin müssen die Spezialkliniken das rare Pflegepersonal finden und geeignete Räume schaffen. Andere Krankenhäuser dürfen zwar weiter die Leistung mit den Krankenkassen abrechnen, aber es stellt sich um so mehr die Frage, ob es der ärztlichen Kunst entspricht. Nicht alles was man darf, sollte man auch machen.
Eine Konzentration auf weniger Kliniken ist geboten, Eltern extrem kleiner Frühgeborener müssen wohl in Zukunft weiter fahren. Schon jetzt darf das Klinikum Frankfurt (Oder) die kleinen Frühgeborenen nur mit Ausnahmegenehmigung des Brandenburger Gesundheitsministeriums behandeln. Insbesondere in Brandenburg ist die Landespolitik nun als Krankenhausplaner gefragt. Alle vier Kliniken liegen an oder unter der geforderten Mindestbehandlungszahl. Welche Kliniken das Angebot ausbaut, welche es einstellen, können sich die konkurrienden Kliniken schwerlich miteinander aushandeln.
Auch in Berlin werden Standorte das Angebot einstellen müssen. "Unsere Klinik ist von der neuen Regelung grenzwertig betroffen – wir haben meist nur wenige mehr als 25 Frühgeborene unter 1.250 Gramm," sagt Beatrix Schmidt, die Leiterin der Kinderklinik des St. Joseph Krankenhaus Berlin-Tempelhof. "Ich denke, dass einfach der Anreiz falsch gesetzt wird. Man sollte eher Anreize schaffen Frühgeburten zu verhindern.
Mindestmenge soll bessere Qualität fördern
Kinder und Eltern bräuchten eine intensive Betreuung durch interdiziplinäre und multiprofessionelle Teams, heißt es in der Pressemitteilung des Gemeinsamen Bundesausschusses. Die Zahl der Zentren werde vermutlich sinken, aber längere Fahrtzeiten führen zu keinen zusätzlichen Risiken für Patienten. Aus Studien werde sichtbar, dass der Gewinn an Versorgungsqualität diesen Umstand aufwiege.
Mit der sogenannten Mindestmengenregel soll dafür gesorgt werden, dass planbare, komplexe Operationen und Behandlungen nur in Krankenhäuser durchgeführt werden, die das häufig machen und dementsprechend geübt sind. Damit soll die Qualität gesichert werden, denn abgesehen von dieser Regelung sind Kliniken in Deutschland sehr frei darin, was sie machen dürfen.
Lobbyinteressen gegen wissenschaftliche Erkenntnisse
Auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse legt der G-BA die genaue Mindestmenge fest. Zumindest in der Theorie führt das zu eindeutigen Ergebnisse, in der Praxis geht es auch um Lobbyinteressen. So zeigten sich in der Sitzung des G-BA große Meinungsunterschiede: Die Patientenvertreter forderten eine Mindestmenge von 30, die Gesetzliche Krankenversicherung wollte 25 und die Deutsche Krankengesellschaft plädierte für 20.
"Die beschlossene Mindestmenge von 25 Frühgeborene pro Zentrum und Jahr bleibt deutlich hinter dem Optimum von etwa 60 zurück, das kürzlich von einer Forschergruppe für Deutschland berechnet wurde", sagt Christoph Bührer, Direktor der Neonatologie an der Berliner Charité. "Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses sind als politische Kompromisse anzusehen, die der vorhandenen Evidenz nur bedingt Rechnung tragen."
Krankenkasse gegen Krankenhäuser
Die AOK Nordost begrüßt die Anhebung der Mindestmenge. "Jedes Frühchenleben zählt. Eine höhere Mindestmenge wird laut den Studien aller Wahrscheinlichkeit nach dazu beitragen, Frühchenleben zu retten", sagt Marita Moskwyn, die zuständige Bereichsleiterin der AOK-Nordost. "Deshalb ist heute ein guter Tag für die Allerkleinsten. Die Krankenkasse ist überzeugt, wenn sie richtig aufgeklärt werden, wollen Mütter und Väter solcher Extrem-Frühchen nicht das nächstgelegene Perinatalzentrum für ihr Kind. Sondern das nächste, dass eine sehr gute Qualität liefert.
"Der Beschluss markiert einen schlechten Tag für die deutsche Neugeborenenversorgung", sagt hingegen Frank Jochum, der Chefarzt der Neonatologie am Evangelischen Waldkrankenhaus Spandau. In einer schriftlichen Stellungnahme zweifelt er die wissenschaftliche Evidenz an und fordert stattdessen den Ausbau der Pflegeausbildung. "Wem eine Verbesserung der Behandlungsqualität von Neugeborenen in Deutschland ein wirkliches Anliegen ist, der muss sich vor allen anderen möglichen Aufgaben um eine Verminderung des Pflegemangels in der Kinder- und Jugendmedizin bemühen," sagt Jochum. Die nötigen Ausbildungsplätzen würden fehlen.
Neue Mindestmenge auch für Speiseröhren-Operationen
Beschlossen wurde ebenfalls eine Erhöhung der Mindestmenge für geplante Eingriffe an der Speiseröhre (Ösophagus) von 10 auf 26 Eingriffe jährlich ab dem Jahr 2023. Bisher haben in Berlin bzw. Brandenburg 13 bzw. ein Klinik(en) komplexe Operationen an der Speiseröhre durchgeführt, nur 3 bzw. keines davon haben von Juli 2019 bis Juni 2020 mehr als die geforderten 26 Eingriffe gemacht. Auch in diesem Bereich steht eine starke Konzentration und Spezialisierung an.
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