Ankunft afghanischer Bundeswehr-Ortskräfte - "Wir haben für die Deutschen gearbeitet – die Taliban sind hinter uns her"

In Afghanistan werden sie mit dem Tod bedroht, weil sie für die deutsche Regierung gearbeitet haben. Nun bekommt ein Teil der afghanischen Bundeswehr-Helfer in Deutschland Schutz. Doch ihre Ankunft verläuft oft chaotisch. Von Anna-Maria Deutschmann und Annette Miersch
Amir und Hamid liegen lachend in einer Schaukel und feuern ihren Papa an, der sie immer wieder anschubst. Je schneller sie schaukeln, desto mehr lachen sie. Sie wirken unbeschwert. Hamid ist sieben, Amir neun Jahre alt. So richtig können die beiden noch nicht verstehen, warum sie hier in Berlin-Marienfelde auf dem Spielplatz toben und nicht mehr zu Hause in Masar-e Sharif. "Wir waren in Afghanistan nicht mehr sicher", erzählt ihre Mutter Shakila Ghafury. "Eigentlich wollten wir nicht weg, wir lieben unsere Heimat. Aber die Taliban spüren alle auf, die für die Deutschen oder die Amerikaner gearbeitet haben. Wir hatten keine andere Wahl."

Ihr Mann hat elf Jahre als bewaffneter Sicherheitsmann für die Bundeswehr am Stützpunkt in Masar-e Sharif gearbeitet. Der 37-Jährige kontrollierte dort unter anderem Fahrzeuge auf Sprengsätze oder Personen auf Waffen, erzählt er. Er gehört zu den sogenannten afghanischen Ortskräften, die Deutschland nach dem Abzug der Bundeswehr aufnehmen will – mit ihren Familien sind es rund 2.500 Menschen.
Chaotische Ankunft: Am Flughafen auf sich allein gestellt
Visum bewilligt. Aber wie geht es dann weiter? Die Reise musste die Familie selbst organisieren, die rund 4.000 Dollar für den Flug aus eigener Tasche zahlen. So sehen es die Regeln der Bundesregierung zur sogenannten "eigenverantwortlichen Ausreise" zurzeit vor.
Am 11. Juli kommt die Familie in Schönefeld am BER an – auf sich allein gestellt und völlig orientierungslos, erinnert sich Mohammad Ghafury. "Vor Ort konnte uns niemand helfen, auch nicht die Polizei", sagt er. "Wir wussten nicht, wohin wir sollten. Also haben wir am Flughafen geschlafen." Er und seine Frau sprechen kein Deutsch, nur wenige Worte Englisch.
Am nächsten Tag holt ein Cousin die Familie am Flughafen ab und nimmt sie bei sich auf. Er telefoniert herum und schafft es, der Familie eine kleine Übergangswohnung in der Erstunterkunft Marienfelde zu organisieren.
Normalerweise hätten die Berliner Behörden die Familie vom Flughafen abholen und in eine Unterkunft bringen müssen, die aber wussten offenbar nicht Bescheid.

So soll die Ankunft in Deutschland eigentlich funktionieren
Eigentlich sollen die afghanischen Helfer schon mit Erhalt des Visums ihren Zielort in Deutschland erfahren. Sie werden nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Da die Anreise auf Entscheidung der Bundesregierung aber bislang nicht zentral erfolgt, sondern sich jede Familie auf eigene Faust einen Flug nach Deutschland organisieren muss, herrscht oft Verwirrung: Viele wissen bei ihrer Landung nicht, wohin sie müssen.
Organisationen wie Pro Asyl, der Flüchtlingsrat Berlin, der Flüchtlingsrat Brandenburg sowie das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V. versuchen, zu vermitteln.
Familie Ghafury hat nach den ersten Anlaufschwierigkeiten Hilfe vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V. bekommen. In dem Verein mit Sitz im brandenburgischen Eberswalde setzen sich Bundeswehrsoldaten ehrenamtlich für die afghanischen Familien ein. Sie vermitteln Paten für Behördengänge und Kontakte in die afghanische Community.
Unter ihnen: Sven Fiedler. Der 30-jährige Soldat war 2018 mehrere Monate in Afghanistan stationiert, hat Seite an Seite mit den afghanischen Helfern gearbeitet. "Es ist für mich selbstverständlich, dass wir die Menschen unterstützen, die sich für uns vor Ort eingesetzt, uns beschützt haben. Ihr Leben ist gerade deshalb bedroht, weil sie für uns gearbeitet haben", sagt er. Ihnen müsse hier ein Neustart ermöglicht werden. "Es ist unsere moralische Verantwortung, unseren ehemaligen Kollegen zu helfen!"
Dass Familien wie die von Mohammad und Shakila Ghafury orientierungslos und chaotisch in ihr neues Leben in Deutschland starten, sei kein Einzelfall, kritisiert Fiedler.
Integration der Ortskräfte: Wie geht es hier weiter?
Die Helfer und ihre Familien haben Anspruch auf einen Platz in einer Gemeinschaftsunterkunft, Sozialleistungen, Kita-Plätze, Schule und medizinische Versorgung, erklärt der Flüchtlingsrat Brandenburg auf rbb-Nachfrage.
Ihnen stehe eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis zu. Außerdem erhielten sie eine Arbeitserlaubnis und dürften an Integrationskursen teilnehmen. Ob und wie schnell sie in eine private Wohnung ziehen können, sei derzeit offen.
Familie Ghafury beschäftigt diese Frage momentan am meisten. Ihre Wohnung in der Gemeinschaftsunterkunft beschreiben sie als alt und zu klein für ihre vierköpfige Familie.

Tausende afghanische Helfer der Bundesregierung weiter akut in Gefahr
Das Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte sieht Versäumnisse bei der Politik. Die Bundesregierung würde Tausende Menschen im Stich lassen. Sven Fiedler spricht von rund 4.000, Angehörige eingeschlossen. Da diese nicht direkt für die Bundeswehr gearbeitet hätten, sondern für Subunternehmen oder andere deutsche Behörden, bekämen sie kein Visum, so Fiedler. "Wir lassen die Leute vor Ort sterben, das macht mich fassungslos."
Hunderte Ortskräfte in Afghanistan, die bereits ein Visum für Deutschland haben, seien zudem weiter auf sich allein gestellt und müssten ihre Ausreise selbst organisieren. Zumindest das könnte sich demnächst ändern. Die Bundesregierung erwägt, Helfer und Familien nun doch mit Sammelflügen nach Deutschland zu holen.
Trotz der chaotischen Umstände bei ihrer Ankunft: Familie Ghafury ist froh, hier zu sein. Sie seien Deutschland dankbar, sagen Mohammad und Shakila: "Jetzt fühlen wir uns in Sicherheit." Sie möchten bald eine eigene Wohnung finden und hoffen auf eine gute Zukunft für Amir und Hamid, die beide bald in Berlin zur Schule gehen wollen.
Die Kommentarfunktion wurde am 26.07.2021um 20:53 Uhr geschlossen
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Sendung: Abendschau, 26.07.2021, 19.30 Uhr