Inklusion im ÖPNV - Berliner Bahnverkehr wird frühestens 2024 barrierefrei sein

Ab 2022 soll der Nahverkehr in Deutschland barrierefrei sein. Doch Berlin wird dieses Ziel verfehlen. Insbesondere die U-Bahn stellt vielen unüberwindbare Hürden. Von Nils Hagemann und Oliver Noffke (Text) sowie Götz Gringmuth-Dallmer (Grafik)
Bettina Theben muss sich mit aller Kraft und ausgestreckten Armen am Handlauf der Rolltreppe festhalten. Andernfalls droht der Rollstuhl, in dem sie sitzt, hinunterzustürzen. Aber am U-Bahnhof Pankstraße kann sie sich nur so nach oben ziehen. Hier gibt es keinen Aufzug.
Menschen, die wie die 51-jährige Bettina Theben in ihrem Alltag auf einen Rollstuhl angewiesen sind, haben es nach wie vor schwer, sich in Berlin mit U- oder S-Bahn fortzubewegen. Ab dem kommenden Jahr soll der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) vollständig barrierefrei sein, also stufenfrei zugänglich und mit einem Blindenleitsystem ausgestattet sein. Das sieht eine UN-Konvention zur Stärkung der Rechte Behinderter vor, die 2009 von Deutschland ratifiziert wurde. Ab 2022 muss der Nahverkehr damit bundesweit barrierefrei sein.
Derzeit sind aber von den 175 U-Bahnhöfen laut Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) 36 nicht stufenlos erreichbar – also mehr als jeder fünfte. Unter den 139 stufenlos erreichbaren Bahnhöfen verfügen 131 über einen Aufzug zum Bahnsteig, acht über eine Rampe.
Nur 120 Bahnhöfe für Geh- und Sehbehinderte geeignet
Ein Kuriosum ist die U-Bahnstation Schloßstraße in Steglitz. Dort ist der Bahnsteig über einen Fahrstuhl erreichbar – allerdings nur wenn ein benachbartes Einkaufszentrum geöffnet ist, zu dem der Fahrstuhl gehört. Deswegen wird der Bahnhof von uns nicht als stufenfrei zugänglich gewertet. Das gilt auch für Bahnhöfe, die nur mit Rolltreppen ausgestattet sind, da sie von Menschen im Rollstuhl nur sehr bedingt genutzt werden können.
Hinzu kommt, dass an 45 U-Bahnhöfen ein Blindenleitsystem fehlt. Hauptsächlich werden dazu geriffelte, helle Fliesen in die Böden eingelassen, die ein sicheres Navigieren per Taststock ermöglichen. Konkret heißt das: Nur 120 Bahnhöfe sind derzeit sowohl für Menschen mit Gehbehinderungen als auch für Menschen mit Sehbehindeungen geeignet.
Die BVG weiß um den Handlungsbedarf und erklärt auf Anfrage des rbb, sie gehe davon aus, dass 2024 all ihre Bahnhöfe entsprechend umgebaut sein werden. Bei 36 Bahnhöfen mit fehlendem Aufzug ist das ein ambitionierter Zeitplan.
Barrierefrei heißt, nicht auf Hilfe angewiesen zu sein
Doch selbst als barrierefrei geltende Bahnhöfe können Hürden bereithalten für Menschen mit eingeschränkter Mobilität oder sensorischen Beeinträchtigungen – etwa einer Sehschwäche. Zugestellte Blindenleitsysteme, kaputte Fahrstühle, fehlende Ansagen bei Zugausfällen oder andere technische Defekte können zum abrupten Ende einer Reise werden und sich für die Betroffenen anfühlen, als wären sie gestrandet.
Auch Bettina Theben, die an einem Berliner Gymnasium als Lehrerin arbeitet, erlebt solche Situationen immer wieder. Und selbst wenn wirklich alle Aufzüge funktionieren, braucht sie meist länger als die reguläre Fahrtzeit. Denn immer wieder muss sie warten: Bis der Aufzug frei ist – oder bis ein Zug kommt, bei dem die Türen auf Bahnsteighöhe sind.
Trotz Einschränkungen allein unterwegs sein zu können, ist jedoch eine Grundvoraussetzung für Barrierefreiheit. So beschreibt es das Berliner Landesgesetz über die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung [berlin.de/sen/soziales/]. In der Konsequenz heißt das: Auch ausklappbare Rampen, wie sie an den Bussen, Straßenbahnen oder S-Bahnen zum Einstieg für Menschen mit Rollstuhl oder Rollator eingesetzt werden, sind laut Gesetz nicht barrierefrei.
Die S-Bahn ist weiter, aber nicht perfekt
Bei der Berliner S-Bahn sieht es zumindest bei den reinen Zahlen besser aus: Nur neun der 168 Bahnhöfe haben laut S-Bahn Berlin weder einen Fahrstuhl noch eine Rampe zum Gleis. Doch auch das muss längst nicht heißen, dass im Alltag alles funktioniert.
"Es gibt keinerlei Spontaneität"
Ursula Engelen-Kefer, Vizepräsidentin des Sozialverbands Deutschland (SoVD), sieht ein weiteres Kriterium für die Frage nach der Barrierefreiheit: den Zeitaufwand. "Barrierefreiheit heißt, dass Menschen mit Behinderung oder im Alter mit Rollator, mit Gehschwierigkeiten oder als Familie mit Kinderwagen sich spontan frei bewegen können." Eine Reise, die sorgfältig geplant werden muss, sei deshalb nicht barrierefrei, sagt sie.

"Es gibt keinerlei Spontaneität mehr, so wie das für gesunde Menschen, die keinerlei Einschränkungen haben, der Fall ist", sagt Engelen-Kefer. "Wenn man von Lichtenberg zum Bahnhof Zoo fahren will, um einen schönen Tag zu nutzen, muss man das planen." Solche Pläne würden dann oftmals durchkreuzt, weil Fahrstühle kurzfristig ausfielen oder gewartet würden. Ein Blick in die Apps der BVG und Bahn sei unabdingbar. "Dann hoffe ich, dass ich ausreichend Informationen bekomme. Aber es kann auch vorkommen, dass ein Ausfall noch gar nicht angezeigt wird."
Alternativen sind rar oder teuer
Wirkliche Alternativen, die barrierefrei und spontan genutzt werden könnten, seien in Berlin nach wie vor entweder rar oder mit erheblichen Mehrkosten verbunden, sagt SoVD-Vizepräsidentin Engelen-Kefer.
Da wäre zum Beispiel der Rufbus Berlkönig. Die Flotte umfasst mittlerweile 150 Wagen, alle geeignet für Rollstühle, so die BVG. Allerdings wird dieser Service in den Außenbezirken nicht angeboten. Immerhin soll ab dem kommenden Jahr ein ähnliches Angebot die östlichen Bezirke Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick mit dem Ostkreuz verbinden. Allerdings handelt es sich um einen Testprojekt, dass 2025 wieder auslaufen wird.
Gescheitert ist der Senat mit seinem Vorhaben, Taxi-Unternehmen Anreize zu geben, ihre Flotten behindertengerecht umzurüsten. Bis Ende des Jahres sollten 250 sogenannte Inklusionstaxen auf Berliner Straßen unterwegs sein. Es gibt derzeit 26, berichtete der "Tagesspiegel" vor Kurzem. Der SoVD hatte sich für dieses Projekt intensiv eingesetzt.
Ursula Engelen-Kefer bezeichnet das Ergebnis als "Tropfen auf den heißen Stein". Weil es so wenige behindertengerechte Taxen gebe, müsse wieder alles langfristig geplant und teurer bezahlt werden. "Da ist nichts mehr mit Spontaneität."
Sendung: Abendschau, 21.07.2021, 19.30 Uhr