Die Politik und der Krankenhaus-Streik - Unheimlich einig

Der Frust bei Pflegekräften und Service-Mitarbeitern an den Berliner Kliniken ist hoch. Verblüffend einig sind sich die Parteien darin, dass der Status quo nicht länger tragbar ist. Ein Weg aus der Krise ist trotzdem nicht zu erkennen. Von Christoph Reinhardt
Selten dürfte die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi so viel landespolitischen Rückhalt aus dem Abgeordnetenhaus für ihre Forderungen bekommen haben. Ob rechts, ob links, ob Regierung oder Opposition: Gute Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern unterstützen einfach alle.
"Wir wollen, dass es gleiche Löhne für gleich Arbeit, dass es gute Bedingungen für die Pflege gibt, wo die Arbeitskräfte auch entsprechend entlastet werden", sagt die Grüne Fraktionschefin Silke Gebel. In seltener Einigkeit mit dem FDP-Gesundheitspolitiker Florian Kluckert, der die Verdi-Forderung nach einem Entlastungtarifvertrag unterstützt: "Eine feste Quote auf bestimmten Stationen halte ich für vernünftig. Wenn zu wenig Personal da ist, geht das auf Kosten der Menschen."
Den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVÖD) auch auf die einst ausgegründeten Vivantes-Tochtergesellschaften anzuwenden, das hält CDU-Gesundheitsexperte Tim Zeelen für "eine gute Idee", die seinerzeit bewusst herbeigeführten Lohnunterschiede seien heute "nicht mehr haltbar". Und auch für den SPD-Landesvorstand ist klar, "dass innerhalb desselben Unternehmens auch dasselbe Entgelt für dieselbe Arbeit zu zahlen ist".
Müller, Kalayci und Kollatz in der Verantwortung
Nicht einmal der bestreikte Arbeitgeber selbst will da zurückstehen. "Wenn das Geld käme, würden wir natürlich gerne unseren Mitarbeitern bessere Bedingungen bieten", beteuert Vivantes-Sprecherin Kristina Tschenett. Aber genau das ist nicht zu erwarten. Allein die Mehrkosten für die Forderung "TVÖD für alle" schätzt Vivantes auf 35 Millionen Euro jährlich. Der landeseigene Klinikkonzern habe schon im vergangenen Jahr mit einem Verlust von 30 Millionen Euro abgeschlossen, sagt Tschenett: "Wenn da dauerhaft pro Jahr noch 35 Millionen Euro dazu kommen an Belastungen, wäre das Land in der Verpflichtung, diese Defizite auch dauerhaft zu übernehmen."
Einen höheren Landeszuschuss für konsumtive Ausgaben, sprich: Personalkosten, sieht der Haushaltsplan aber ausdrücklich nicht vor. Eine unbequeme Lage für den SPD-Gesundheitsexperten Thomas Isenberg, der zwischen dem Beschluss des SPD-Landesvorstands und den Vorgaben des Senats lavieren muss: "Wir sind alle unzufrieden mit der Situation."
Politisch verantwortlich für die Charité ist SPD-Wissenschaftssenator Michael Müller, für Vivantes SPD-Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci und fürs Geld SPD-Finanzsenator Matthias Kollatz, in Personalunion Aufsichtsratsvorsitzender von Vivantes. Spielraum sieht Isenberg zwar bei den Investitionen, für die im deutschen Krankenhaussystem die Bundesländer zuständig sind. Auch bei der Lohnangleichung der ausgegründeten Tochterunternehmen könne das Land einen größeren Teil übernehmen. Für die Behandlungskosten und damit auch die Personalkosten der Gesundheitsberufe sind aber die Krankenkassen zuständig.
Bundesweite Pflegekrise, europarechtliche Probleme
Der "große Stau bei der Ausbildung und noch besserer Bezahlung" von Pflegekräften sei darum ein bundesweites Problem, sagt Isenberg. Es sei nur durch bundespolitische Vorgaben der Krankenhausfinanzierung zu lösen, die "auch die humane Krankenversorgung mehr in den Vordergrund des Gesundheitswesens" setzen müsse.
Landesmittel für mehr Personal in den Gesundheitsberufen wären im bestehenden System der Krankenhausfinanzierung nicht zulässig, warnt Isenberg: "Wir können die Kliniken nicht subventionieren. Wenn wir das täten, hätten wir europarechtliche Probleme, weil nach deren Logik die Krankenversorgung ein Gewerbe ist." Auch Verdi müsse das bei ihren Forderungen berücksichtigen, kritisiert der Sozialdemokrat die Gewerkschaft. "Leider gehen Verdi und die Beschäftigtenvertretung bis ans Äußerste und überspannen den Bogen ein Stück weit." Von den Tarifvertragsparteien fordert er "pragmatische Verhandlungen".
Für den Gesundheitsexperten der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, Wolfgang Albers, ist diese Haltung inakzeptabel. Nicht die landeseigenen Krankenhäuser, sondern die Politik müsse eine Lösung finden. "Bis jetzt hat man den Kopf in den Sand gesteckt und die Sache den Krankenhäusern übergeholfen." Relativ leicht sei die Anwendung des TVÖD auf die Beschäftigten der Tochtergesellschaften. Wenn die Politik die vernünftige Forderung "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" erhebe, müsse die Politik auch die Voraussetzungen schaffen und die 35 Millionen Mehrkosten kurzfristig zur Verfügung stellen. Eine schnelle Lösung für den Mangel an Pflegekräften gebe es aber nicht. "Das scheitert einfach daran, dass das Personal nicht vorhanden ist."
Vorbild Mainz?
Nur mehr Ausbildung in Verbindung mit besseren Arbeitsbedingungen könne das Problemlösen, sagt Albers. Und Vivantes-Sprecherin Tschenett verweist auf die vielen unbesetzten Stellen: "Wir haben kein Einstellungslimit und würden 700 Leute in der Pflege einstellen, wenn es denn möglich wäre." Rund 1.000 Pflegekräften bildet Vivantes derzeit aus, aber Hunderte werden sich wohl im Anschluss einen weniger stressigen Job suchen. Derzeit liege die Übernahmequote bei 70 bis 80 Prozent, sagt Vivantes.
Um das zu verhindern, sagt wiederum Verdi, brauche man den Entlastungs-Tarifvertrag. Wie ein Kompromiss dabei aussehen könnte, deutete Verdi in der vergangenen Woche an, als sie einen vergleichbaren Tarifvertrag für die Uniklinik Mainz vorstellte. Dort wird die Entlastung stufenweise über fünf Jahre eingeführt. Eine verbindliche Zusage an die Mitarbeiter, dass die Belastung zumindest in Zukunft sinken werde - und zusätzliche Zeit für Arbeitgeber und Politik, die über viele Jahre unbearbeiteten Probleme endlich zu lösen.
Sendung: Abendschau, 23.08.2021, 19.30 Uhr