Kurz nach dem Mauerbau - Wie Studierende als Doppelgänger aus der DDR flüchteten

Ein junger Mensch aus dem Osten, ein Pass aus dem Westen und die Hilfe von Kommilitonen: In den ersten Wochen und Monaten nach dem Mauerbau brauchte es noch nicht viel mehr, um eine Flucht aus der DDR zu organisieren. Von Oda Tischewski
Eben noch hatte man zusammen im Hörsaal gesessen – dann blieben plötzlich viele Plätze leer: Der Bau der Mauer vor 60 Jahren trennte nicht nur Familien, sondern machte es vielen Berlinern auch unmöglich, zu ihren Arbeits- oder Studienplätzen zu kommen. Gerade viele junge Menschen sahen nach dem 13. August 1961 für sich keine Zukunft mehr im Osten und entschlossen sich zur Flucht – mit Hilfe ihrer Kommilitonen.
Auch der damalige FU-Student Jürgen Schitthelm sah im Herbst 1961 seine Chance gekommen: Er studierte zwar im Westen, lebte aber im Ostteil der Stadt. Damit war mit dem Mauerbau auch sein Studium vorerst beendet – ein für ihn unhaltbarer Zustand.
Flucht mit einem Schweizer Pass
De Entscheidung fiel schnell, erzählte Schitthelm der rbb-Abendschau: "Es sind schnell Kommilitonen bei mir gewesen und haben gesagt: Wenn du weg willst, können wir dir einen Pass besorgen. Und so war es dann auch: Ich bekam einen Schweizer Pass und habe mich am 13. November 1961 auf den Weg gemacht, über den Bahnhof Friedrichstraße Richtung Zoo."
Wie Jürgen Schitthelm verließen in den ersten Monaten viele Studierende und sogar ganze Familien die DDR. Der Weg war relativ sicher, niemand musste unter Stacheldraht oder durch enge Tunnel kriechen. Der Trick mit dem Pass nutzte Schlupflöcher in den noch nicht ganz eingespielten Grenzkontrollen.
Wolf Müller-Fabian betätigte sich in dieser Zeit als Fluchthelfer. Er studierte in West-Berlin Tiermedizin, stammte aber aus Süddeutschland. Nur deswegen kam er als Fluchthelfer überhaupt in Frage. "Wir waren alles Studenten mit westdeutschen Ausweisen. Meine Westberliner Freunde und Bekannten durften ja nach dem 13. August gar nicht mehr nach Ostberlin. Aber Westdeutsche, die durften noch rüber, die bekamen einen Passierschein."
Westdeutsch bis zur BVG-Karte
Gemeinsam mit Freunden und ohne Bezahlung brachte Müller-Fabian Kommilitonen über die Grenze: Sie sammelten BRD-Pässe ein, aber auch Dokumente von Österreichern oder Schweizern, und versorgten damit ausreisewillige Ostberliner. Dazu mussten sich Pass-Eigentümer und Pass-Nutzer wenigstens oberflächlich ähneln. Aber mit dem Ausweis allein war es noch nicht getan, erzählt Jürgen Schitthelm: Die Fluchthelfer sorgten für eine lückenlose Tarnung, die längst nicht bei der Kleidung endete. "Ich hatte Theaterkarten aus Westberlin vom Abend vorher, eine abgefahrene BVG-Karte vom Fluchttag selber, Westgeld in der Tasche – ich war perfekt ausgerüstet."
Die Grenzen werden abgedichtet
Im Laufe weniger Monate nach dem Mauerbau wurden die Kontrollen an den Grenzübergängen strenger, die Risiken größer. Ein Pass allein reichte jetzt nicht mehr aus, und ein gültiger Passierschein war schwer zu bekommen. Die Fluchthelfer mussten sich also neue Wege einfallen lassen, denn die Nachfrage war nach wie vor groß.
Die Westberliner Studenten kamen auf einen ausgeklügelten Trick: Eine Flucht von Osten nach Westen – über den Norden! "Wenn man einen Pass mit einem Transitvisum nach Schweden hatte, bekam man aber keinen Passierschein", erzählt Wolf Müller-Fabian. "Um die Leute nun rauszuholen, bin ich nach Süddeutschland geflogen, habe dort sieben, acht Ausweise eingesammelt, und dann haben wir diese Ausweise zum skandinavischen Reisebüro in der Nähe vom Kudamm gebracht. Denn wenn man dort ein Ticket kaufte, besorgten die Mitarbeiter das nötige Visum in Ostberlin."
Fast aufgeflogen
Doch die Gefahren wurden deutlicher: Nachdem die riskante Flucht eines Ostberliner Arztes mit Familie und Hund 1962 nur knapp geglückt war, kamen Wolf Müller-Fabian Bedenken. Er zog sich aus der Gruppe der Fluchthelfer zurück, vermied Reisen auf der Transitstrecke und wurde Tierarzt – wie geplant. Für den Studenten Jürgen Schitthelm war seine Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik auch der Beginn seiner Karriere: Er gründete, nur wenige Monate danach, die Schaubühne am Halleschen Ufer – ein demokratisches Mitbestimmungstheater.
Sendung: Abendschau, 09.08.2021, 19:30 Uhr