Familiennachzug aus Afghanistan - Ali bangt in Berlin um Mutter, Vater und Geschwister

Die erneute Machtergreifung der Taliban versetzt in Deutschland lebende Afghanen in größte Sorge um ihre Angehörigen. Darunter sind auch viele Minderjährige, die sich nichts mehr wünschen, als ihre Familie hierher zu holen. Von Annette Miersch
Ali wirkt selbstbewusst und herzlich. Der 16-Jährige geht in Berlin in die zehnte Klasse und spielt begeistert Fußball. Anfang 2016 kam er als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland. Da war er knapp elf Jahre alt. Seine Eltern und Geschwister hat Ali seitdem nicht mehr in die Arme schließen können. Sie leben mittlerweile in der Nähe von Kabul, berichtete er.
Seitdem er weg sei, habe die Mutter seine fünf Geschwister allein versorgen müssen, weil der Vater bei den Taliban in Gefangenschaft gewesen sei, sagt Ali. Erst vor Kurzem sei ihm die Flucht gelungen. Er verstecke sich nun bei der Familie, könne das Haus nicht verlassen. "Die Taliban suchen ihn", erzählte der Jugendliche. Der Vater sei verletzt, die Mutter krank.
Kontakt droht abzureißen
Bis vor Kurzem, sagt Ali, habe er mehrmals in der Woche mit ihnen telefoniert. Das werde immer schwieriger. Die Sorge um seine Brüder und Schwestern werde immer größer: "Die Taliban können einfach kommen und Deinen Sohn oder Deine Tochter mitnehmen. Du kannst nichts tun und Dich nicht wehren. Wenn Du Dich wehrst, erschießen sie Dich. Denen ist egal, ob Du Mensch oder Tier bist", sagt Ali.

Seine Familie ist bereits seit 2015 auf der Flucht vor den Taliban. Von ihrem Dorf aus sind sie nach Kabul in die afghanische Hauptstadt gelangt. Dort übergab Alis Mutter den Jungen an einen Nachbarn, der ihn mit nach Europa nehmen sollte. Sie verschuldete sich, um die Schlepper zu bezahlen.
Ali schaffte es bis Berlin. Doch sein Asylantrag wurde von den deutschen Behörden abgelehnt. Die Lage in Afghanistan sei ruhig, wurde ihm damals mitgeteilt. "Die wissen gar nicht, was da wirklich abgeht", sagt er. So schlimm, wie es jetzt in den Nachrichten gezeigt werde, sei es dort schon die ganze Zeit gewesen. "Nur, dass jetzt die Taliban an der Macht sind."
Doch ohne einen anerkannten Flüchtlingsstatus hat Ali, wie die meisten anderen afghanischen Geflüchteten in Deutschland, kein Recht, seine Familie herzuholen - obwohl er minderjährig ist.
Warum ist der Familiennachzug so schwierig?
Afghanische Geflüchtete in Deutschland werden zum größten Teil nur geduldet. Die Lage in Afghanistan wurde nämlich bislang vom Auswärtigen Amt und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als nicht gefährlich genug bewertet. Nur wer persönlich verfolgt war, wurde und wird anerkannt, kann einen Antrag auf Familiennachzug stellen. Das gilt allerdings nur für die Kernfamilie - also Ehepartner, die eignen Kinder und Eltern von Minderjährigen.
Die Angehörigen wiederum müssen sich ein Einreisevisum für Deutschland beschaffen. Das bekommt man jedoch nur, wenn man in einer deutschen Botschaft persönlich vorspricht.
In Kabul geht das seit 2017 nicht mehr, Angehörige aus Afghanistan müssen deshalb in die deutsche Botschaft nach Islamabad oder Neu Dehli. Das war schon vor der Rückkehr der Taliban nicht einfach, mittlerweile ist das – erst recht für Frauen – geradezu unmöglich.
Ohnehin musste man allein auf den Termin ewig warten, oft ein bis zwei Jahre, das berichten Flüchtlingshelfer. Zuletzt standen laut Auswärtigem Amt rund 4.000 Afghanen auf den so genannten Terminwartelisten der beiden Botschaften.
Blankes Entsetzen bei den Menschen
Für Minderjährige sei die Ungewissheit besonders schwer auszuhalten, sagt Ulrich Deroni, Leiter des Cura-Vormundschaftsvereins aus Steglitz. Der Verein führt und vermittelt berlinweit Vormundschaften für geflüchtete Kinder und Jugendliche wie Ali. "Es herrscht blankes Entsetzen bei den Menschen und eine wahnsinnige Angst um ihre Angehörigen", berichtet Deroni. In seiner Beratungsstelle liefen die Telefone heiß.
Trotz der dramatischen Zuspitzung in Afghanistan hat das BAMF offenbar erstmal eine Vollbremsung hingelegt. Nach Auskunft der Asyl-Beratung der AWO Berlin-Mitte gibt es seit Mitte August, als die Taliban Kabul einnahmen, einen Entscheidungsstopp für Asyl- und/oder Nachzugs-Anträge afghanischer Menschen.
Viele Berater und Betreuer sind empört. "Alles steht still. Vor den Bundestagswahlen will niemand mehr etwas riskieren. Die Bundesregierung betreibt eine Abschottungspolitik", kritisiert ein Berufsvormund der Caritas gegenüber dem rbb.
Gefährdungslage soll neu bewertet werden
Mit dem Machtwechsel in Afghanistan wird jetzt eine Neubewertung der Gefährdungslage im Land erwartet. Damit hätten afghanische Geflüchtete eventuell die Möglichkeit, den Asylantrag erneut zu stellen und die Familie herzuholen. - Ali will das auf jeden Fall. „Meiner Familie geht es da jetzt gerade echt Scheiße", sagt er. "Ich will, dass meine Geschwister eine Zukunft haben."
Alis ehrenamtlicher Vormund informiert sich gerade, wie man einen Asyl-Folgeantrag stellt. Darüber freut sich Ali sehr. Doch auch wenn der Jugendliche nun doch noch einem Anspruch auf Familiennachzug erhalten sollte, müssten seine Eltern und Geschwister extreme Hürden überwinden, schon allein um aus Afghanistan herauszukommen.
"Je länger das dauert, desto schwieriger wird es für meine Familie", sagt der Schüler. Fest steht: Die Zeit läuft davon.
Sendung: Inforadio, 13.09.2021, 08:30 Uhr
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