Beginn der Deportationen aus Berlin vor 80 Jahren - Wo die Züge warteten

Gleis 17 in Grunewald ist wohl der bekannteste Deportationsbahnhof Berlins. Aber nicht der einzige, von dem aus etwa 55.000 Berliner Jüdinnen und Juden verschleppt wurden - in Ghettos, Arbeits- und Vernichtungslager. Von Matthias Schirmer
17. Oktober 1941. Am Kudamm klingelt die Gestapo bei drei älteren Herrschaften. Die Geheime Staatspolizei kommt bei Anbruch der Dunkelheit und bringt die drei Charlottenburger Juden in ein sogenanntes Sammellager nach Moabit. Am nächsten Morgen laufen sie von dort durch den Regen bis zum Bahnhof Grunewald, Gleis 17. Marie Kallmann, verwitwet, ihre Schwester Therese Hirsch und Schwager Julius Hirsch. Acht Kilometer Fußmarsch. Nur die ganz Schwachen und Kinder dürfen auf den Lkw. Am Bahnhof Grunewald, so erinnert sich eine jüdische Augenzeugin, steht die SS mit Reitpeitschen. Aber bei diesem ersten Transportzug aus Berlin habe es noch keine Prügelszenen gegeben.
Am 18. Oktober vor 80 Jahren begannen in Nazi-Deutschland die Deportationen von Jüdinnen und Juden in Ghettos, Arbeits- und Vernichtungslager. Gleis 17 in Grunewald ist wohl der bekannteste Deportationsbahnhof Berlins, aber nicht der einzige. Gleis 2 am Anhalter Bahnhof und das Gleis 69 am Güterbahnhof Moabit haben ihre jeweils eigenen Geschichten zu erzählen.

Etwa 10.000 Opfer bestiegen an Gleis 17 den Zug
In Grunewald bestiegen etwa 10.000 Opfer ihren Zug gen Osten. Marie Kallmann, ihre Schwester und der Schwager kamen von hier ins Ghetto Lodz. Dann wurden sie nach Chelmno weiter transportiert. Dort wartete der Gaswagen. Seit 1998 erinnert hier das zentrale Mahnmal der Deutschen Bahn AG an die eigene Verbrechensgeschichte. Rostige Eisengussplatten beidseits des Gleises dokumentieren alle Deportationsfahrten aus Berlin.
Die älteste Mahntafel von Grunewald wurde hier im November 1953 von Berliner Juden angebracht. Juden aus beiden Teilen der Stadt kamen, um hier zu gedenken, erzählt der Historiker Gerd Kühling - beobachtet von der Westberliner Polizei. Denn die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), die eingeladen hatte, galt als kommunistische Tarnorganisation. Der Versuch, die Gedenkveranstaltung von Amts wegen zu verhindern, scheiterte. Bahnhof und Gleis lagen auf Hoheitsgebiet der DDR.
"Reden ist verboten, aber singen nicht!"
Doch die Westberliner Ordnungshüter verboten Ansprachen und Reden. Auf einem Foto von 1953 steht stumm ein West-Berliner Polizist. Neben ihm die sichtlich zornige jüdische Sängern Lin Jaldati. Mit geballter Faust. Sie war selbst Holocaust-Überlebende: "Reden ist verboten, aber singen nicht", rief sie damals - und stimmte ein jiddisches Partisanenlied an: "Sag niemals, Du gehst den letzten Weg!"

Transportwaggons an die regulären Züge angehängt
Samuel Jacobys Zug stand am Anhalter Bahnhof, am 10. Juli 1942. Samuel Jacoby war Witwer und Veteran des Ersten Weltkriegs. Täglich um 6.07 Uhr fuhr hier der ganz normale Zug über Dresden. "Diese Züge haben ganz regulär auch in Theresienstadt gehalten", erzählt der frühere Reichsbahner Andreas Szagun. "Es wurden einfach noch ein paar Dritte Klasse Schnellzugwaggons angehängt."
Vom Anhalter Bahnhof starteten die "kleinen Alterstransporte". Sie brachten jeweils 50 bis 100 Berliner Juden in das sogenannte Altersghetto in Böhmen. Viele hofften, für sie würde es nicht so schlimm kommen wie für die anderen, die in die berüchtigten Lager nach Polen gebracht wurden. Es gab schließlich Bedingungen, um mit so einem sogenannten Alterstransport nach Tschechien zu kommen: Man musste über 65 sein, gebrechlich oder jüdischer Partner einer nicht mehr bestehenden Mischehe - oder Träger einer Kriegsauszeichnung aus dem Ersten Weltkrieg.

Die Nazis kassierten für die Unterbringung ab
Die Nazis behaupteten, Theresienstadt sei angeblich nur eine Art großes Altersheim. Und kassierten für die Unterbringung ab. Das böse Erwachen kam für viele der Deportierten erst beim Ausstieg auf dem Bahnhof Bauschowitz, schrieben tschechische Zeitzeugen: Kein Kurhaus wartete hier, sondern winzige Elendsquartiere. Viele der Ghettobewohner wurden später weiter transportiert – in die Gaskammern von Auschwitz. Über 9.000 Berliner Juden fuhren von hier aus ins Lager.
Reichsbahner Szagun ist Moabiter Heimatforscher und als Gutachter für das Bezirksamt Mitte/Tiergarten tätig. Er weiß, wo hinter dem Tempodrom in einem Wäldchen die letzten Reste der Bahnsteige liegen. "Die normalen Reisenden hier müssen gesehen haben, wie die Juden einstiegen", sagt er. "Aber die fielen ja auf den ersten Blick gar nicht auf. Nur durch den gelben Stern."

Winzige Gedenkstätte seit 2017
Die allermeisten Berliner Juden wurden vom Güterbahnhof Moabit in den Tod verfrachtet. Es waren mehr als 30.000, die nach Auschwitz, Treblinka und Sobibor deportiert wurden. Auch Zug Da 523 fuhr hier ab - am 3. Oktober 1942. Die Züge, die hier standen, waren endlos lang: 30 Waggons, so erinnern sich Zeugen. Auch Belgien-Veteran Moritz Steiner, ein Arzt aus Halensee, fuhr an jenem Tag von Moabit ab: Ein Sitzkissen und eine Goethe-Ausgabe hat er mitgenommen. In Theresienstadt überlebte er nur einen Monat.

Thomas Abel von der Initiative Gleis 69 steht an den letzten Resten der früheren, sogenannten "Militärgleise" an der Quitzowstraße. Dieser Ort lag etwas abgelegener als die anderen beiden Deportationsbahnhöfe. Aber er war näher an den sogenannten Sammellagern. In der winzigen Gedenkstätte, die es seit 2017 zwischen Lidl und Baumarkt gibt, hat der pensionierte Kinderarzt vor einigen Monaten mal eine alte Dame mit Hund getroffen: "Sie sagte mir, sie wisse Bescheid. Sie wüsste, was hier passiert ist. Sie hätte die Juden schreien hören."

Deportationsrampe auf heutigem Lidl-Parkplatz
Der Großteil des Güterbahnhofs ist verschwunden, er wurde überbaut. Denn - auch auf Druck der Bundesregierung - hat die Bahn hier vor 20 Jahren Grundstücke zu Geld gemacht. "Unbestritten historisch ist aber das hier: die langsam korrodierende, verrottende Deportationsrampe von Gleis 69", sagt Abel und zeigt auf heillos verrostete Eisenträger. Ein Lidl-Parkplatz liegt neu gepflastert auf einem Teil der alten Rampe.
Der Verein verhandelt mit dem Discounter, der Stadt, dem Bezirk und der Deutschen Bahn. "Lidl hört uns sehr aufgeschlossen zu", sagt Abel. Das Ziel: Könnte der Discounter vielleicht ein Ersatzgelände bekommen und die – unterdessen denkmalgeschützte - alte Rampe wieder frei machen? Der Ausgang ist noch offen.
Sendung: 16.10.2021, Inforadio, 13:44 Uhr