Lehrermangel in Berlin - Auf der Suche nach den verschollenen Lehrkräften

Nur 80 Lehrerstellen waren Anfang August laut Bildungssenatorin Scheeres unbesetzt. Doch es gibt Hinweise, dass es Hunderte sein könnten. Rückfragen zu dem Thema beantwortet die Bildungsverwaltung nur ausweichend. Von Frank Drescher
Es begann mit einem Protestbrief von der idyllischen Insel Scharfenberg, die im Tegeler See in Berlin liegt. In mehreren Klassen des dortigen staatlichen Internatsgymnasiums "Schulfarm Insel Scharfenberg" gebe es unter anderem keinen Englisch- und Französischunterricht, weil vier dafür angekündigte Lehrerinnen und Lehrer nicht zum Dienst erschienen seien. Die Verzweiflung darüber wurde groß und so wandten sich die Eltern der Schüler mit einem Brief an Schul-Staatssekretärin Beate Stoffers (SPD). Das Schreiben liegt dem rbb vor.
Drei der Lehrkräfte, schreibt die Elternvertretung, würden anderswo unterrichten. Die vierte sei mittlerweile in der Schulverwaltung tätig. Die vier Planstellen würden allerdings weiterhin dem Gymnasium auf der Insel Scharfenberg zugerechnet, weswegen die Schulleitung keine Neubesetzung vornehmen könne, schreiben die Eltern.
Ein Begriff hat sich etabliert: "Karteileichen"
Wie kann es sein, dass Lehrkräfte wie auf Scharfenberg in den Personaldaten erscheinen, aber nicht zum Unterricht? Laut den Lehrerverbänden GEW, IBS und VOB ist das keine Seltenheit. Im Verband der Oberstudiendirektoren Berlins (VOB) sind rund 80 Gymnasialdirektoren organisiert. Ihm sind 13 solcher Fälle bekannt.
Berlin hat insgesamt 680 Schulen. Laut Tom Erdmann, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), soll das Problem noch größer sein. Er schätzt, dass es 400 bis 500 solcher Fälle in der Stadt gibt. "Aber wenn die geführt werden, obwohl die gar nicht an der Schule sind, dann ist das Problem auf dem Papier viel kleiner als in Wirklichkeit", sagt Erdmann.
Woran liegt das? Alle Lehrerverbände haben dafür dieselbe Erklärung: Angehende Lehrkräfte bewerben sich auf mehrere Stellen, auch in Brandenburg, heißt es. Anders als in Berlin locke dort die Verbeamtung. Nehmen sie nach einer Zusage der Schulverwaltung ein besseres Angebot von woanders an, könne es passieren, dass manche gar nicht absagten oder die Schulverwaltung ihre Absage nicht schnell genug bearbeite. Für das Phänomen derart verschollener Lehrkräfte habe sich innerhalb der organisierten Lehrerschaft ein Begriff etabliert: "Karteileichen".
Senatsverwaltung gibt keine genauen Zahlen
Darauf angesprochen redet die Schulverwaltung das Problem klein: Das Phänomen sei als "Größenordnung unbekannt" und vermutlich ein Missverständnis, heißt es. In Berlin gebe es rund 34.000 Lehrkräfte. Zudem könne es aufgrund der "pandemiebedingten Mehrbelastungen immer mal wieder in Einzelfällen zu Fehleingaben kommen".
Als der rbb Hinweise überprüfen will, erweist es sich als zähes Unterfangen, konkrete Auskünfte zu unbesetzten Lehrerstellen von der zuständigen Senatsverwaltung zu erhalten.
Auf die Frage, wie sich die laut Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) lediglich 80 unbesetzten Lehrerstellen über die Stadt verteilen, heißt es: Die entsprechende Statistik würde demnächst erstellt und im November veröffentlicht. Vorher könne die Schulverwaltung keine Angaben zu abgeschlossenen Arbeitsverträgen mit Lehrkräften machen - als müsste sie dazu in jeder Schule einzeln nachfragen. Dabei ist es die Schulverwaltung selbst, die die Arbeitsverträge abschließt.
Zudem wurde die Statistik offenbar bereits im August erhoben, das teilten Lehrerverbände mit. Auszüge aus der Statistik liegen dem rbb auch vor.
Dann wird die Schulverwaltung aber doch einmal konkret und teilt mit, dass 154 neue Lehrkräfte eingestellt worden seien. Wie vielen Vollzeitstellen das entspricht, bleibt jedoch unklar.
31 von 46 Schulen in Spandau mit Defiziten
Eine interne Tabelle der Schulverwaltung, die dem rbb vorliegt, listet für 31 von 46 Schulen in Spandau Defizite auf. Bei ihnen ist der Unterrichtsbedarf in Lehrerstunden pro Woche größer als die Zahl der tatsächlich unterrichteten Stunden. Das bedeutet Unterrichtsausfall.
Eine Vollzeitlehrkraft unterrichtet in Berlin je nach Schultyp 26 bis 28 Stunden pro Woche. Wenn nun die Defizite der 31 Schulen mit den Personalreserven der übrigen 15 Schulen verrechnet und das bezirksweite Defizit von 1841,9 Lehrerstunden pro Woche der Einfachheit halber durch 28 Wochenstunden je Lehrer geteilt wird, fehlen rechnerisch allein in Spandau knapp 66 Vollzeitlehrkräfte.
Über unbesetzte Lehrerstellen liegen dem rbb Hinweise aus elf der 13 Berliner Schulaufsichtsbereiche vor, die sich auf mindestens 382 unbesetzte Vollzeitstellen summieren. Diese Zählweise sei nicht nachzuvollziehen, erklärt die Schulverwaltung dazu. Und sie lässt wissen: Die 80 Lehrerstellen, von denen die Senatorin im August sprach, seien bloß eine Momentaufnahme gewesen seien.
Landeselternausschuss geht von 600 fehlenden Lehrkräften in Berlin aus
Uwe Berlo vom Berliner Landeselternausschuss beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Daten, wie sie aus der internen Tabelle hervorgehen. Er hält die Rechnung noch für zu niedrig angesetzt, da sie Personalreserven für Schwangerschaften und Dauererkrankungen außer Acht lasse. Berlo geht von bis zu 600 fehlenden Lehrkräften in Berlin aus.
Die Elternvertretung in Scharfenberg hat sich derweil selbst um eine Lösung für den ausfallenden Englisch- und Französischunterricht bemüht: "Wir haben eine Lehrerin gefunden, die an unsere Schule kommen möchte", sagt Elternvertreterin Annett Schlesier. Sie fügt hinzu: "Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir in der achten Woche sind, ohne dass der Fremdsprachenunterricht stattfindet."
Sendung: Abendschau, 03.10.2021, 19:30 Uhr