Konflikt mit Belarus - Wie Geflüchtete zum Spielball zwischen den Fronten werden
"Hybride Kriegsführung" nennt der Brandenburger Innenminister den Versuch des belarussischen Machthabers Lukaschenko, Asylsuchende an die EU-Außengrenze zu bringen. Doch schutzsuchende Menschen geraten zwischen politische Fronten. Von Efthymis Angeloudis
Belarus? Das Wort hatte Almanzor* bis zum Sommer dieses Jahres noch nie gehört. Doch plötzlich verbreitete sich der Name des osteuropäischen Landes wie ein Lauffeuer im Netz: "Flüge nach Belarus, um in die EU zu kommen". Der Journalist und Blogger, der aus dem Bürgerkrieg im Jemen floh und in Ägypten lebte, nahm das Angebot an – der Flug nach Minsk war immerhin umsonst.
Musste man sonst eine gefährliche Reise über das Mittelmeer oder die Ägäis antreten, um nach Europa zu gelangen, war Almanzor nun in vier Stunden da. "Es war alles so einfach", erzählt er rbb|24 bei einem Besuch im Erstaufnahmezentrum Eisenhüttenstadt. Von Minsk wurde er zusammen mit anderen Menschen in einem Sammeltaxi an die Grenze zu Polen gefahren. "Sobald wir ankamen, sagte uns die belarussische Polizei 'Ihr müsst jetzt weiter nach Deutschland'." Almanzor hebt die Hand, als ob er den Weg zeigen würde und wiederholt "Germany".
EU unter Druck
Seit Juni lässt Belarus' Machthaber Alexander Lukaschenko Menschen aus dem Irak, Jemen und anderen Ländern nach Minsk einfliegen, um sie dann an die EU-Außengrenze von Polen und Litauen bringen zu lassen. Im September wurden bereits 1.200 dieser Geflüchteten in Brandenburg registriert. Seit Anfang Oktober kommen im Schnitt täglich 100 bis 150 Menschen über die deutsch-polnische Grenze dazu. Viele von ihnen landen wie Almanzor im Erstaufnahmezentrum Eisenhüttenstadt.
Die EU beschuldigt Lukaschenko, in organisierter Form Flüchtlinge aus Krisenregionen an die EU-Außengrenze zu bringen. "Der Europäische Rat wird keinen Versuch von Drittländern akzeptieren, Migranten für politische Zwecke zu instrumentalisieren", hieß es am vergangenen Freitag in der Abschlusserklärung eines zweitägigen EU-Gipfels in Brüssel.
"Tatsächlich ist es wohl so, dass die belarussische Regierung Geflüchtete einlädt, ihnen den Flug bezahlt und ihnen dann verspricht, über Belarus nach Europa und Deutschland zu kommen", erklärt der Fluchtforscher des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) Olaf Kleist. Geflüchtete würden auch vor Ort in allen Prozessen unterstützt, nicht aber um ihnen zu helfen. Kleist sieht dahinter eine außenpolitische Taktik, um die EU unter Druck zu setzen [tagesschau.de].
"Hybride Kriegsführung" - "Entmenschlichung von Schutzsuchenden"
Der Brandenburger Innenminister Michael Stübgen (CDU) sieht die steigende Zahl von Geflüchteten aus Weißrussland in der EU als Teil einer "hybriden Kriegsführung" Lukaschenkos an. "Wir haben es hier, was das Lukaschenko-Regime betrifft, mit einer hybriden Kriegsführung zu tun, in der zigtausende Menschen zu Opfern gemacht werden", sagte er dem Sender Phoenix.
Die Wortwahl Stübgens findet Olaf Kleist äußerst problematisch. "Sobald wir anfangen, von Menschen, die auf der Flucht sind, die Schutz suchen, von Waffen zu sprechen und sie zu entmenschlichen haben wir eigentlich schon längst die Ideale Europas aufgegeben."
Bereits im März 2020, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ausreisewillige Migranten und Geflüchtete an die Grenze zu Griechenland brachte, sprach die Regierung in Athen mit Blick auf die Grenzöffnung der Türkei von "hybrider Kriegsführung" Ankaras. Griechenland schloss die Grenzübergänge und verstärkte mit Hilfe von Frontex den Grenzschutz [tagesschau.de]. Am 2. März wurde zudem in einem juristisch sehr umstrittenen Schritt das Recht auf Asyl für einen Monat ganz ausgesetzt. Illegale Pushbacks und Gewalt gegen Asylsuchende an der EU-Grenze folgten.
Pushbacks an der belarussisch-polnischen grenze
Auch Polen scheint von dieser illegalen Praxis Gebrauch zu machen [tagesschau.de]. Said*, der aus dem irakischen Babil, dem einstigen historischen Babylon, die Reise nach Deutschland antrat, wurde, wie er rbb|24 berichtet, von polnischen Polizisten aufgefangen und zurück nach Belarus gedrängt. Erst auf den zweiten Versuch kam er über die belarussisch-polnische Grenze und dann nach Brandenburg.
Geflüchtete, die an eine Grenze kommen, sei es auf dem Seeweg oder an einer Landesgrenze, haben laut Internationalem Flüchtlingsrecht ein Recht darauf, Asyl zu beantragen und damit eigentlich das Recht, das Land zu betreten, damit ihr Asylgesuch untersucht werden kann. "Man muss das Asylgesuch als eine fortgesetzte Grenzkontrolle verstehen", erklärt Olaf Kleist. "Die Menschen kommen ins Land, sagen, dass sie Asyl brauchen und dann wird überprüft, ob sie Asyl bekommen. Wenn sie aber an die Grenze kommen und einen Asylantrag gar nicht stellen dürfen, also direkt mit Gewalt wieder zurückgeschoben werden, dann führt das dazu, dass genau dieses Grundrecht auf Asyl, was immer noch ein wichtiges Recht ist, hier in Europa einfach überhaupt nicht zugänglich ist", so Kleist.
Recht auf Asyl besteht weiterhin
Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft Polen das gewaltsame Zurückdrängen von Geflüchteten an der EU-Außengrenze nach Belarus vor. Diese würden demnach berichten, oft unter dem Vorwand einer Weiterfahrt zu Unterkünften von polnischen Polizisten in Bussen zurück an die Grenze gefahren worden zu sein.
Eine illegale Praxis, die bis dato "weit weg" im Mittelmeer passierte, scheint auch somit ein Stückchen näher an Deutschland gerückt zu sein. Dadurch, dass Flüchtlinge nicht nur nach Polen kommen, sondern auch weiter nach Deutschland, stehe eine Debatte auch darüber an, glaubt Kleist. "Es gibt ein europäisches Recht auf Asyl und das muss eingehalten werden, auch von Polen." Warschau dürfe dieses Recht nicht aussetzen und Menschen zurückschieben. "Wir müssen einfach als Europäer sagen, wir übernehmen gemeinsam Verantwortung", so Kleist. Auch die zukünftige deutsche Bundesregierung müsse darauf beharren.
Kleist: 15.000 Asylsuchende sind für die EU kein Problem
Ein Abkommen der EU mit Minsk, wie mit der Türkei [dw.com], liege allerdings nach Einschätzung von Kleist nicht auf dem Tisch. "Belarus ist ein ganz anderer Fall als die Türkei." Die Türkei habe fast vier Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen – sei damit das wichtigste Flüchtlingsaufnahmeland der Welt. Belarus sei eine solche Einwanderung gar nicht gewohnt. "Da muss man auch einfach mal abwarten, was passiert, wenn viele der Transit-Migranten, die ins Land gebracht werden, vielleicht doch selber in Belarus bleiben."
Dass sich die neue Fluchtroute in die EU etabliert und Brandenburg zum Aufnahmepunkt für Neuankünfte in der EU wird, glaube Olaf Kleist nicht. Sicher würde durch die neue Fluchtroute über Belarus ein diplomatischer Druck aufgebaut. Dies sei aber ein Druck, den sich die EU selbst erst aufsetzen ließ. "Die EU könnte sagen, 'ja, wir nehmen Geflüchtete auf'." Immerhin handele es sich mit 15.000 Asylsuchenden, die schätzungsweise derzeit in Belarus auf die Weiterreise warten, um eine eher überschaubare Zahl. Dann hätte auch Lukaschenko kein Druckmittel mehr.
*Namen von der Redaktion geändert
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