100-Jähriger vor Gericht - Prozess gegen früheren Wachmann des KZ Sachsenhausen beginnt

Fast 80 Jahre liegen die angeklagten Taten zurück, 100 Jahre alt ist der Beschuldigte heute. Dem früheren Wachmann im KZ Sachsenhausen wird vorgeworfen, bei der Ermordung von mehr als 3.500 Menschen geholfen zu haben. Nun startet der Prozess.
Ein 100 Jahre alter Ex-Wachmann des KZ Sachsenhausen muss sich ab Donnerstag in Brandenburg an der Havel vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm als Mitglied einer SS-Einheit Beihilfe zum Mord in 3.518 Fällen in der Zeit von Januar 1942 bis Februar 1945 vor.
Es geht unter anderem um die Erschießung sowjetischer Kriegsgefangener im Jahr 1942, die Ermordung von Häftlingen durch den Einsatz von Giftgas und allgemein um die Tötung von Häftlingen "durch die Schaffung und Aufrechterhaltung von lebensfeindlichen Bedingungen", heißt es dazu vom zuständigen Landgericht Neuruppin. Der Beschuldigte habe laut Anklage durch seine Tätigkeit "Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord geleistet".
Tausende ermordet oder in Sterbelager transportiert
In die Zeit, in der der Angeklagte in Sachsenhausen im Dienst war, fällt unter anderem der Mord an 71 niederländischen Widerstandskämpfern, die Erschießung von 250 "jüdischen Geiseln" als Vergeltung für einen Anschlag auf eine NS-Ausstellung in Berlin, der Beginn der Deportation jüdischer Häftlinge nach Auschwitz. 1943 sei in Sachsenhausen dann auch eine Gaskammer installiert worden.
Anfang 1945 habe die Phase der "Kriegsendverbrechen" begonnen, erklärte der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Axel Drecoll. "Anfang Februar ermordete die SS mehr als 3.000 als 'marschunfähig' selektierte Häftlinge, weitere 13.000 Häftlinge, vorwiegend Kranke und Juden, wurden in die Sterbelager Bergen-Belsen und Mauthausen transportiert."
Anwälte: Justiz hätte früher agieren müssen
Nach Angaben des Nebenklägeranwalts Thomas Walther nehmen an dem Prozess 16 Nebenkläger teil, darunter sieben Überlebende des Konzentrationslagers und neun Angehörige von Opfern. Er vertritt nach eigenen Angaben elf von ihnen. Die deutsche Justiz habe die Aufarbeitung der NS-Verbrechen jahrzehntelang vernachlässigt, so Walther. Für die Nebenkläger sei das Verfahren ungemein bedeutsam. "Sie werden dort gehört werden und das ist bislang nicht genug geschehen."
Auch der Verteidiger des Angeklagten, Stefan Waterkamp, erklärte auf Anfrage, das Verfahren sei zwar rechtsstaatlich korrekt, komme aber viel zu spät. "Es hätte viel mehr Frieden und Gerechtigkeit geben können, wenn wir das in der 1970er, 80er und 90er Jahren gemacht hätten", meinte er. Denn dann hätten noch viel mehr Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden können. "Und das hätte zu einer viel umfassenderen Aufarbeitung geführt."
21 weitere Verhandlungstage bis Anfang Januar
Mit dem Urteil gegen John Demjanjuk, einen ehemaligen Wachmann in Sobibor im Jahr 2011, änderte sich die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen [tagesschau.de]. Das Landgericht München kam damals zu dem Schluss, dass auch Gehilfen schuldig sein können. Denn sie hätten einen Beitrag zum reibungslosen Ablauf des industriellen Tötens in den Vernichtungslagern geleistet.
In dem Prozess in Brandenburg soll am ersten Tag zunächst nur die Anklage verlesen werden. Bis in den Januar hinein sind weitere 21 Prozesstage vorgesehen. Der Angeklagte sei nur bis zu drei Stunden am Tag verhandlungsfähig. Der Prozess sei auch deshalb von Neuruppin in die Nähe seines Wohnortes in Brandenburg an der Havel verlegt worden, sagte eine Gerichtssprecherin: "Eine kürzere Anfahrt führt dazu, dass mehr Zeit für die Hauptverhandlung zur Verfügung steht."
Sendung: Brandenburg aktuell, 07.10.2021, 19:30 Uhr