DDR in den 1980er-Jahren - Als der Flughafen Schönefeld Drehkreuz für Geflüchtete war
Westliche Demokratien mit illegal einreisenden Geflüchteten zu erpressen, ist keine Erfindung von Belarus. Was für Lukaschenko der Flughafen Minsk ist, war in den 1980er-Jahren Berlin-Schönefeld für Erich Honecker. Von Thomas Bittner
Wer Mitte der 1980er-Jahre von der Besucherterrasse auf die Flugzeuge in Schönefeld schaute, sah eine bunte Vielfalt. 18 Fluggesellschaften flogen den DDR-Airport an, der außerhalb von Berlin lag und von Alliierten-Einschränkungen nicht betroffen war. Hier starteten mehr Airlines als in Tegel. Und nur über Schönefeld kam man direkt aus der Türkei oder Griechenland nach Berlin, vorausgesetzt man hatte den richtigen Pass. Das machte den Zentralflughafen Ostdeutschlands auch für Westberlin-Reisende interessant.
Aber hier kamen nicht nur Westberliner Touristen aus dem Griechenland-Urlaub zurück und türkische Familien flogen zum Besuch der Berliner Verwandten ein. Es kamen auch zehntausende Einreisewillige ohne Visum aus aller Welt, die ihr Glück im Westen suchten.
Die DDR winkte die Einreisenden einfach durch
In den 1980er-Jahren stieg der Zahl der Asylsuchenden in der Bundesrepublik stark an. Die DDR hatte ihren Anteil daran. 1984 beantragten 35.000 Menschen Asyl in der Bundesrepublik, 1985 waren es schon doppelt so viele, 1986 kamen Monat für Monat 10.000. Die allermeisten davon über die DDR nach Westberlin. Genaugenommen: Sie flogen über Schönefeld ein.
Die DDR winkte die Einreisenden einfach durch und berief sich dabei auf das Prinzip der "Transitfreiheit". Was den DDR-Bürgern verwehrt war, konnten zehntausende Durchreisende aus dem Nahen Osten, dem indischen Subkontinent oder Afrika für sich in Anspruch nehmen.
Mit Transitvisum durch die DDR
Das Prinzip war einfach: Die wichtigsten Flughäfen, von denen Asylsuchende Richtung DDR starteten, waren 1986 Damaskus (Syrien), Luanda (Angola), Bagdad (Irak) und Istanbul (Türkei). In Schönefeld angekommen, bekamen die Einreisenden ein Transitvisum.
Seit 1984 gab es ein eigens für Ausländer und Westreisende ausgebautes und abgeriegeltes Empfangsterminal mit Zoll- und Passkontrolle. Von hier wurden die Passagiere an die Grenzübergangsstellen - meist zum S-Bahnhof Friedrichstraße - gebracht. Hinter der DDR-Kontrolle am "Tränenpalast" gab es keinen Einreisecheck. Denn wegen des Sonderstatus der eingeschlossenen Stadt und ihrer offen zur Schau gestellten Liberalität kontrollierte in Westberlin niemand an der Grenze.
Dass sich die Aufnahmeheime im Westen Berlins dramatisch füllten, verschaffte den DDR-Oberen durchaus Genugtuung. Ein Sprecher des DDR-Außenministeriums konterte den Wunsch des Senats nach Drosselung der Grenzübertritte mit der Bemerkung: "Es gab eine Zeit, in der Berlin (West) um internationalen Zuzug von Arbeitskräften warb. Dass von über 200.000 ausländischen Bewohnern der 1,9 Millionen Einwohner von Berlin (West) jetzt viele arbeitslos sind, dafür ist die DDR nicht verantwortlich."
Bis 1985 waren allein aus Sri Lanka über 20.000 Angehörige der tamilischen Minderheit via Schönefeld nach Berlin gekommen. In einer Stasi-internen "Information zum Transitverkehr von sogenannten Asylanten durch die DDR" wird präzise aufgelistet, woher die anderen "Asylanten und Arbeitssuchenden" kamen: die meisten aus dem Iran, Libanon, Ghana, Pakistan und Syrien.
Für sieben DM nach Westberlin
Die DDR machte mit dem Asyltourismus auch noch ein gutes Geschäft. 1986 informierte Interflug-Generaldirektor Klaus Henkes das Politbüro-Mitglied Günter Mittag in einer internen Information: Die Einnahmen der Interflug aus dem Ticketverkauf an Asylreisende betrugen jährlich 15 Millionen Valutamark. Für ein Transitvisum kassierten die Passkontrolleure jeweils fünf D-Mark. Für ein Busticket zum S-Bahnhof Friedrichstraße waren sieben D-Mark fällig, das brachte der DDR im Jahr noch einmal 3,8 Millionen DM ein.
Bei der Interflug wusste man sehr wohl, dass mit den Tickets Geschäfte gemacht wurden. Henkes schrieb an Mittag: "Die Tickets werden zu normalen Tarifen verkauft. Der Weiterverkauf der Interflug-Tickets durch sogenannte 'Schlepper' an die Asylanten zu stark erhöhten Preisen ist sehr verbreitet."
Westdeutsche Politiker versuchten bei jeder Gelegenheit, die DDR-Oberen zur Schließung des Schleusentors Schönefeld zu bewegen. Helmut Kohl, Franz Josef Strauß oder auch Eberhard Diepgen sprachen Politbüro-Mitglieder bei Messebesuchen in Leipzig oder Hannover auf das Einreise-Problem an. Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen musste sich dabei von Erich Honecker belehren lassen, dass es Vereinbarungen mit der Bundesregierung zur Einreise nach Westberlin nicht geben könne, weil die Bundesrepublik nicht zuständig sei. "Trotzdem könnten die Völkerrechtler das Thema nochmals prüfen" heißt es in einer Gesprächsnotiz, die das MfS archivierte.
Dass die DDR durchaus anders konnte, bewies sie mehrfach. Im Juni 1985 unterband die DDR die Einreise von Tamilen aus Sri Lanka. Ende 1985, nachdem Schweden und Dänemark drohten, der Interflug Landerechte zu verweigern, wenn weiter Asylbewerber ohne Einreisevisum über Schönefeld und die Ostseefähren kämen, lenkte man ein. Wer zum Beispiel kein schwedisches Einreisevisum vorweisen konnte, wurde von der Interflug nicht mehr nach Stockholm geflogen und bekam auch kein Transitvisum durch die DDR. Das erhöhte den Druck auf Westberlin. Denn die DDR brachte diejenigen, die nicht nach Schweden oder Dänemark weiterreisen konnten, jetzt nach Westberlin.
Belastungsprobe im Ost-West-Verhältnis
Ab Februar 1986 ließ man keinen Transit Richtung Bundesrepublik mehr zu, wenn im Pass ein "Sichtvermerk" für eine genehmigte Einreise nach Westdeutschland fehlte. Das war kein großes Opfer für die DDR. Außenminister Oskar Fischer schrieb an SED-Generalsekretär Erich Honecker: "Praktisch ergeben sich keine Probleme, da ein Transit durch die DDR direkt in die BRD durch Asylbewerber kaum erfolgt." Die meisten Einreisen in die Bundesrepublik gingen weiter über Westberlin.
Am 14. Juli 1986 schrieb Bundeskanzler Helmut Kohl an Erich Honecker: "Die Lösung dieser Frage ist dringend. Der fortgesetzte Zustrom der Monat für Monat über den Flughafen Schönefeld illegal einreisenden Ausländer belastet das Verhältnis zwischen unseren beiden Staaten zunehmend." Das beschauliche Schönefeld wurde zur Belastungsprobe in der Ost-West-Auseinandersetzung.
Die DDR ließ sich jedes Zugeständnis honorieren. Für den Stopp des Tamilen-Zuzugs wurde im Handelsverkehr ein zinsloser Überziehungskredit von 600 auf 850 Millionen DM erhöht.
Im September 1986 kündigte die DDR an, den ungehinderten Zustrom auch über Westberlin zu unterbinden, indem man auf westdeutsche Einreisevisa bestand. Ausgerechnet SPD-Kanzlerkandidat Johannes Rau verkündete das Einlenken, das dadurch wie ein Wahlkampfgeschenk der SED für die Sozialdemokraten wirkte. Der Politikwissenschaftler Jochen Staadt, Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin, schrieb 2015 über die Hintergründe des Deals. Die SED hatte sich die Respektierung der DDR-Staatsbürgerschaft von einer SPD-geführten Bundesregierung erhofft. Doch dazu kam es nicht. Helmut Kohl blieb Bundeskanzler. Und im November 1989 kam auch für die 16 Millionen DDR-Bürger "Transitfreiheit".
Flughafen Schönefeld in jüngster Zeit kaum involviert
Der Rest ist Geschichte. Der Flughafen Schönefeld spielte für Geflüchtete in der jüngsten Zeit kaum eine Rolle mehr. Doch das muss nicht so bleiben. Der Bund und das Land Brandenburg planen derzeit ein Ein- und Ausreisezentrum am Flughafen BER.
Sendung: Radioeins, 04.11.2021, 00:48 Uhr