Berliner Bezirksparlamente konstituieren sich - Freundliche und feindliche Macht-Übernahmen

Vor fast sechs Wochen haben die Berlinerinnen und Berliner gewählt – und dabei auch darüber abgestimmt, wer künftig in den zwölf Bezirken regiert. Einige Spitzenposten sind bereits vergeben. Über manche wird noch heftig gerungen. Von Sylvia Tiegs
Die ersten fangen um 17 Uhr an, die letzten beginnen erst um 18 Uhr. Sie treffen sich in den Sälen der Rathäuser, oder – wegen Corona - in Sporthallen und Schul-Aulen: Die Rede ist von den Bezirksverordnetenversammlungen, kurz BVV. Am Donnerstag kommen alle zum ersten Mal seit der Wahl vom 26. September zusammen, zu ihren konstituierenden Sitzungen.
Die Bezirksverordnetenversammlungen verfügen jeweils über 55 Mitglieder. Sie bestimmen die Politik in ihren jeweiligen Bezirken wesentlich mit – auch, weil ihnen eine entscheidende Aufgabe zukommt: In den kommenden Wochen wählen die BVV die jeweiligen Bürgermeister oder Bürgermeisterinnen. Dazu braucht es dort Mehrheiten. Um sie zu sichern, haben die Parteien seit der Wahl überall miteinander verhandelt. Mit teilweise überraschenden Ergebnissen.
Auch Gewinner brauchen Partner
Wer glaubt, dass die Wahlgewinner automatisch die Spitzenposten in den Bezirken bekommen, täuscht sich. Ein Beispiel: Die CDU hat den Bezirk Reinickendorf mit 29 Prozent der abgegebenen Stimmen gewonnen. In der BVV mit ihren 55 Mitgliedern entspricht das 18 Sitzen – keine Mehrheit. Ähnlich ergeht es der SPD in Neukölln oder den Grünen in Friedrichhain-Kreuzberg: Auch sie haben dort deutliche Siege eingefahren, aber nirgends die nötige Mehrheit von 28 Stimmen in der Bezirksverordnetenversammlung errungen.
Damit aber stabile Verhältnisse möglich sind und Bürgermeister und Bürgermeisterinnen gewählt werden können, erlaubt die Berliner Verfassung die Bildung von sogenannten Zählgemeinschaften. Ohne sie geht oftmals nichts im Bezirk. Und diesmal haben diese Bündnisse mancherorts aus Siegern Verlierer gemacht – und umgekehrt.
Aufkündigung alter Bündnisse
"Es wird eine Zählgemeinschaft geben, die nicht unter CDU-Führung steht." Das stellt, scheinbar nüchtern, die noch amtierende Bürgermeisterin von Steglitz-Zehlendorf fest. Tatsächlich bedeutet dieser Satz für Cerstin Richter-Kotowski das Aus an der Bezirksspitze, obwohl ihre Partei mit rund 27 Prozent hier klar die Wahl gewonnen hat. Aber die Plätze zwei, drei und vier haben sich gegen die CDU verbündet: Grüne, SPD und FDP sind in Steglitz-Zehlendorf eine Zählgemeinschaft eingegangen. Sie haben sich formell verabredet, die Grüne Stadträtin Maren Schellenberg zur Bezirksbürgermeisterin zu wählen. Zu dritt kommen sie in der BVV auf 32 Stimmen und damit auf eine komfortable Mehrheit.
In der vergangenen Legislaturperiode hatten die Grünen in Steglitz-Zehlendorf noch mit der CDU eine Zählgemeinschaft gebildet. "Aber jetzt wollten wir einen Neustart", sagt Grünen-Kreisvorsitzende Susanne Mertens. Vorwürfe der CDU, das gehe am Wählerwillen vorbei, weist Mertens zurück: "Die CDU hat das schlechteste Ergebnis seit 70 Jahren im Bezirk eingefahren – wir dagegen konnten deutlich zulegen." Eine Ampel-Zählgemeinschaft entspreche demnach sehr wohl dem Wählerwillen in Steglitz-Zehlendorf.
Zählgemeinschaften sind keine Koalitionen
Auch in anderen Bezirken gibt es schon fest verabredete Zählgemeinschaften: In Neukölln haben sich SPD und Grüne zusammengetan, um Martin Hikel als SPD-Bürgermeister wieder zu wählen. In Marzahn-Hellersdorf kooperieren SPD, Linke und Grüne, um den sozialdemokratischen Bezirksstadtrat Gordon Lemm zum neuen Bürgermeister zu machen. Sehr zur Empörung der CDU übrigens, die den Bezirk am östlichen Stadtrand überraschend der vorher regierenden Linken abgejagt hat. Nun aber gehen die Christdemokraten an der Spitze leer aus, ähnlich wie die Parteifreunde in Steglitz-Zehlendorf und Reinickendorf.
Eines aber dürfen diese und andere Zählgemeinschaften nicht: stimmenstarke Parteien vom Mitregieren ausschließen. Denn Zählgemeinschaften sind keine Koalitionen für die Bezirksämter; sie können die Stadtratsposten nicht freihändig verteilen. Vielmehr werden diese Ämter proportional zum Wahlergebnis verteilt, nach festen Verfahren.
Bezirke fest in rot-grüner Hand
Vor allem für die Berliner Christdemokraten heißt das: Sie können zwar hier und da noch Stadtratsposten besetzen. Aber ganz vorne mitmischen, das war einmal. Wenn kein Wunder geschieht, stellt die CDU in keinem Berliner Bezirk mehr den Bürgermeister oder die Bürgermeisterin.
Die Sozialdemokraten dagegen können ziemlich sicher in Reinickendorf, Neukölln, Spandau, Treptow-Köpenick und Marzahn-Hellersdorf regieren. Die Grünen behalten Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg und haben sich dank neuer Zählgemeinschaften neben Steglitz-Zehlendorf auch das Spitzenamt in Charlottenburg-Wilmersdorf gesichert.
Schwer gerangelt wird derzeit noch in Pankow, Lichtenberg und Tempelhof-Schöneberg. Hier purzeln Gewinner und Verlierer munter durcheinander: Zwar haben die Grünen Pankow gewonnen, aber SPD und Linke wollen ihnen nicht zur Mehrheit in der BVV verhelfen. Ausgang: ungewiss.
In Lichtenberg sieht sich die siegreiche Linke einer drohenden Zählgemeinschaft aus Grünen, SPD und CDU gegenüber - und im Rathaus Schöneberg wackelt der Chefsessel von SPD-Bürgermeisterin Schöttler. Die gleichstarken Grünen wollen aber auch den Bürgermeister stellen. Fazit: Es bleibt spannend in der Berliner Bezirkspolitik. Die Konstituierung der Bezirksparlamente ist erst der Anfang.
Sendung: Abendschau, 04.11.2021, 19:30 Uhr