Interview | Scheidender Regierender Müller - "Ich lebe in meiner Stadt, fiebere mit meiner Stadt mit und möchte das Beste"

Nur noch wenige Tage ist Michael Müller (SPD) als Regierender im Amt. Zum Abschluss spricht er über Dankesbotschaften aus Los Angeles, Erkenntnismomente mit Londons Rathauschef und seine Ideen, die Verantwortlichkeiten der Bezirke neu zu ordnen.
rbb: Herr Müller, bei Ihnen ist es gerade so ein bisschen wie zwischen den Jahren: Noch Regierender Bürgermeister aber auch schon Bundestagsabgeordneter - wie geht es Ihnen?
Michael Müller: Mir geht es ganz gut, ich habe viel zu tun. Aber tatsächlich würde ich trotz dieser Doppelsituation Bundestag und Regierender sagen: Ich bin noch zu 80 Prozent Bürgermeister. Es ist noch so viel los mit den Ministerpräsidentenkonferenzen und vielen anderen Terminen. Im November hatten wir die Jahrestage wie Mauerfall und diese ganzen Dinge. Das sind offizielle Termine für den Regierenden Bürgermeister.
Gibt es noch diese eine Sache, die Sie unbedingt erledigt haben wollen?
Ja, es gibt die eine Sache, aber die verrate ich nicht. Diese Sache hat mit dem Thema Wissenschaft zu tun und ist mir sehr wichtig. Wir führen da schon seit einigen Monaten Gespräche und ich hoffe, dass es noch gelingt. Aber das kann ich noch nicht öffentlich machen.
In Ihren sieben Jahren als Regierender Bürgermeister war einiges los: Es gab die Flüchtlingskrise, die Berlin sehr gefordert hat, und den schrecklichen Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz. Jetzt gibt es immer noch Corona: Was hat Sie am meisten gefordert?
Wir hatten 2014/15 und 2016 die Situation, dass Zigtausende Geflüchtete zu uns in die Stadt kamen, dann im Dezember 2016 den Anschlag auf den Breitscheidplatz und nun die zwei Jahre Corona. Rückblickend würde ich sagen: Das, was einen am meisten umgehauen hat, war der Anschlag auf dem Breitscheidplatz. Ich war vor Ort und die Toten, die Verletzten zu sehen, das vergisst man nicht. Und das vergisst auch die Stadt, das kollektive Gedächtnis nicht. Das wird man immer in Erinnerung behalten.
Aber natürlich muss ich sagen: Die letzten beiden Corona-Jahre sind auch bitter, weil sie die Stadt zurückgeworfen haben. Wir hatten eine gute Entwicklung vor uns, die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen. Wir hatten viele Ansiedlungserfolge, der Tourismussektor war stark - nun sind wir in vielen Punkten wieder auf null gestellt. Wir müssen sehen, wie wir anknüpfen können. Das ist schon bitter zu sehen, was in zwei Jahren alles wegbricht, was nicht stattfindet, was nicht gelingt von den Dingen, die man sich vorgenommen hat für eine Legislaturperiode.
Auch als Bürgermeister schlägt man die Zeitung morgens auf und sieht oft, was in Berlin angeblich wieder alles nicht geklappt hat. Wie lange wird es dauern, bis diese Schlagzeilen bei Ihnen keinen Blutdruck mehr erzeugen?
Das weiß ich nicht, denn ich bin ja Berliner. Ich lebe in meiner Stadt, fiebere mit meiner Stadt mit und möchte das Beste. Nicht nur als Bürgermeister, sondern auch als Bürger der Stadt will man, dass es vorangeht. Und natürlich sehe ich auch, dass manche Kritik berechtigt ist, dass einiges in der Verwaltung besser laufen muss und auch der ganze Digitalisierungsprozess. Da bin ich auch selbstkritisch. Was ich nur rundweg ablehne, und wo ich auch vehement dagegen halte, ist dieses doofe pauschale Berlin-Bashing, also zu sagen: "In Berlin funktioniert ja nichts." Und "Überall woanders ist es besser." Das ist großer Mist, um es mal klar zu sagen. Ich komme gut rum und sehe in Deutschland und in der ganzen Welt, dass alle Metropolen mit Problemen zu kämpfen haben. Ob Hamburg, München, ob Buenos Aires, London oder Paris - alle haben ihre Probleme. Das soll nichts bei uns entschuldigen. Aber man muss es einordnen.
Was war denn Ihr Vorschlag auch aus den Erfahrungen, die Sie gemacht haben? Wie müsste man die Verwaltung in Berlin anders aufstellen?
Wir bräuchten eindeutig - wie in Hamburg - eine Entscheidungsstruktur. Ich finde es richtig, dass wir diese kommunale Ebene der Bezirke haben. Mit Bezirken von 350.000 oder 400.000 Einwohnern ist das selbstverständlich. Aber es muss ein Letztentscheidungsrecht des Senats geben. Es muss möglich sein, für jedes Fachressort, für jede Senatorin und jeden Senator aus einer fachlichen Sicht zu sagen: "Hier greife ich durch, weil wir landesweit etwas anderes wollen." Da wird der Bezirk überstimmt. So ein Instrument wäre dringend nötig.
Sie könnten jetzt aus dem Nähkästchen plaudern. Sie waren ständiger Gastgeber der Ministerpräsidentenkonferenz. Wie läuft das so ab in dieser Runde?
Ganz konstruktiv und auch ganz menschlich.
Das glaube ich nicht.
Doch, es ist so ganz menschlich, weil alle besorgt und bedrückt sind. Alle haben Fragen, alle sind auch unsicher, und auch Ministerpräsidenten versuchen, sich zu versichern. Was macht der Kollege vielleicht besser? Gibt es einen Wissenschaftler, der mir einen guten Rat geben kann? Wir müssen uns korrigieren! Ja, so ist das, auch auf dieser Top-Führungsebene im Kanzleramt stellt man Fragen und versucht, einen guten Weg zu finden. Und es ist in dem Sinne auch konstruktiv, weil natürlich alle sehen, dass keiner allein die Weisheit mit Löffeln gefressen hat. Wenn etwas nicht gelungen ist in der Corona-Zeit, dann lag es fast nie an dem föderalen System, sondern dann lag es auch daran, dass wir auf manche Dinge nicht gut vorbereitet waren. Auf die Situation mit Masken, mit Kitteln zu Beginn der Pandemie. Oder wer bestellt wann welchen Impfstoff? Das sind Dinge, die hätten auf Bundesebene in den Ministerien besser organisiert sein müssen.
Und da hat keiner gestichelt, auch nicht Markus Söder?
Natürlich gibt es auch mal Sticheleien. Aber wir sehen alle, dass die Probleme, die es in einem Bundesland gibt, ganz schnell auch im eigenen Bundesland ankommen können. Zu Beginn der Pandemie gab es einige, die so dachten und es auch ausgesprochen haben: "Na, ob Berlin das auf die Reihe kriegt?" Heute können wir einen Strich drunter machen und sagen: Wir waren nie, nicht einen einzigen Tag, schlechter als andere, sondern ganz im Gegenteil über weite Strecken besser als andere.
Hadern Sie mit der Entscheidung, nicht wieder fürs Rote Rathaus zu kandidieren, sondern in den Bundestag zu wechseln?
Nein, ich hadere damit nicht. Aber ich sage natürlich offen, dass ich mich wahnsinnig freue auf eine neue politische Aufgabe. Allen, die fragen, "Ist das nicht ein Abstieg", muss man dann sagen: Im höchsten deutschen, demokratisch gewählten Parlament als frei gewählter Abgeordneter arbeiten zu können - was soll das eigentlich für ein Abstieg sein? Nein, ich freue mich darauf. Ich hoffe sehr, dass ich gute Ausschüsse bekomme und in der Fraktion gut mitarbeiten kann. Aber ich gebe auch zu, dass es Tage gibt, wo es auch mal wehtut.
Ich bin auch gerne Bürgermeister. Man bringt vieles auf den Weg, was einem wichtig ist. Und dann weiß man, man wird es nicht mehr als Bürgermeister begleiten können und die nächsten Entwicklungen erleben, wie es dann gute Wirkung entfaltet. Man erlebt Tage, wo man weiß: Man hält jetzt die letzte Begrüßungsrede an dieser Stelle, und man wird nächstes Jahr gar nicht mehr eingeladen. Ja, das tut auch mal weh.
Sie waren ja auch immer ein Player in diesen Metropolennetzwerken der großen Städte. Ruft da vielleicht der eine den anderen oder die andere Bürgermeisterin an und fragt: Wie machst Du das denn? Können wir davon profitieren? Gibt es so etwas wie die Freundschaften zwischen Bürgermeistern?
Freundschaft - das ist vielleicht zuviel gesagt, denn für Freundschaft muss es ja auch die direkte und intensive Begegnung geben. Und das ist eben schwer über die großen Entfernungen: Buenos Aires, Peking. Aber London zum Beispiel, Sadiq Khan, der Bürgermeister hat angerufen und gesagt: "Wollen wir nicht mal was zusammen organisieren, um voneinander zu lernen, wie wir mit der Corona-Situation umgehen?" Ich habe dann eine Videoschalte organisiert mit Christian Drosten. Die anderen Bürgermeister waren begeistert, dass es diesen Austausch gegeben hat.
Ich habe jetzt auch zum Beispiel von Bürgermeister Eric Garcetti aus Los Angeles einen tollen, wirklich sehr liebevollen Brief bekommen. Jetzt zum Abschied. Es ist schön, zu sehen, dass man manchmal international mehr und besser wahrgenommen wird als hier. Manche in Berlin schaffen es nicht, sich auch vernünftig zu verabschieden. Das scheinen im internationalen Maßstab einige sehr gut zu können.
Man hätte sich vorstellen können, dass Sie jetzt Minister werden als langgedienter Ministerpräsident. Olaf Scholz hat anders entschieden. Haben Sie ihm schon eine SMS geschrieben mit den Worten "Na, vielen Dank!"?
Natürlich habe ich das nicht gemacht, weil ich es auch verstehe. Ich habe selbst oft genug ein Kabinett zusammensetzt. Es spielt erst mal schon das Männer-Frauen-Thema eine Rolle. Und das ist auch richtig so. Das unterstütze ich. Und wir sind eine sehr junge Fraktion. Das wollen wir auch berücksichtigt haben. Insofern weiß ich, dass man, auch wenn man als Ministerpräsident Erfahrung hat, andere nicht einfach bei Seite schieben kann. Man muss sich genauso anstellen und sich seinen Platz erobern, wie die anderen es auch machen.
Der 21. Dezember wird nach Lage der Dinge der letzte Tag für Sie im Roten Rathaus als Regierender Bürgermeister sein. Hier geistert immer so die Geschichte über die Flure, es gebe da ein Geheimfach in ihrem Schreibtisch.
Es gibt tatsächlich da so ein Fach, was man nicht sofort erkennt am Schreibtisch. Aber da sind keine großen Geheimnisse drin. Ich weiß auch gar nicht, was ich da im Moment reingelegt habe. Und es gibt auch kein rotes Telefon.
Aber es gibt natürlich schon ein paar Vorgänge, die man als Regierender Bürgermeister sehr direkt begleitet, mitunter ohne eine große Aktenlage, wo man sich in Gesprächen um das eine oder andere für die Stadt bemüht, und das nimmt man mit oder kann es auch weitergeben. Es gibt also in diesem Fach nichts, was an großen Geheimnissen weitergegeben wird.
Im Bund gibt es für Abschiede dieses Zeremoniell des Zapfenstreichs - den haben wir gerade erlebt mit Angela Merkel. Das gibt es in Berlin nicht. Aber: Wenn Sie sich dennoch drei Titel wünschen könnten zum Abschied, welche wären das?
Nein, so etwas gibt es in Berlin nicht. Ich glaube, es gibt gar keine Verabschiedung. Aber es gibt so zwei, drei Lieder, die ich sehr gerne höre, unter anderem eines von David Bowie - "Major Tom". [Anm. d. Red.: Das Lied, in dem Bowie über Major Tom singt, heißt "Space Oddity".] So etwas höre ich sehr gerne und auch ein paar Sachen von Eric Clapton. Also, ich glaube, es wäre für einige eine Überraschung, was ich mir dann da wünschen würde - und vielleicht auch eine Herausforderung für die Bundeswehr, das dann zu spielen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Michael Müller führte Jan Menzel für Inforadio. Dieser Text ist eine gekürzte und redigierte Version des Interviews, das Sie oben im Beitrag komplett als Audio hören können.
Sendung: Inforadio, 07.12.2021, 10.45 Uhr