Franziska Giffey ist Regierende Bürgermeisterin - Tatsächlich im Amt

Der Kampf ums Rote Rathaus schien für die SPD schon verloren. Sie setzte alles auf die Karte Giffey. Auch weil die Mitbewerber schwächelten und sich der Wind drehte, ist Franziska Giffey nun Regierende Bürgermeisterin. Von Jan Menzel und Christoph Reinhardt
In einem rbb spezial spricht Volker Wieprecht um 22:15 Uhr mit Franziska Giffey
Um ganz zu begreifen, was die Berliner SPD Franziska Giffey zu verdanken hat, muss man ein gutes Jahr zurückblicken. Im Herbst 2020 liegen die ausgelaugten Berliner Sozialdemokraten in Umfragen gerade mal bei 15 Prozent. Weit abgeschlagen hinter der CDU (22 Prozent) und den siegesgewissen Grünen (26 Prozent). Nach über 30 Jahren im Senat ist die SPD eher unterwegs in die politische Bedeutungslosigkeit als auf dem Weg zurück an die Spitze.
Inzwischen hat Giffey eine Art Promi-Status
Nur ein einziger Umfragewert spricht zu diesem Zeitpunkt für die Berliner SPD: Die Beliebtheit ihrer Spitzenkandidatin Franziska Giffey. Im Vergleich zur Konkurrenz aus der Berliner Landespolitik spielt Giffey längst in einer anderen Liga. Schon als Neuköllner Bezirksbürgermeisterin hat sie überregionale Aufmerksamkeit bekommen, als Bundesfamilienministerin mit regelmäßigen Auftritten in der Tagesschau bekommt sie sogar eine Art Promi-Status.
Als sich im Sommer 2021 der bundespolitische Trend unverhofft zugunsten der SPD dreht, ist die Berliner Spitzenkandidatin plötzlich genau die richtige Frau an der richtigen Stelle. Denn im Berliner Straßenwahlkampf zwischen Stehtischen und Sonnenschirmen kann die Frau mit der markanten Hochsteckfrisur ihre vielleicht größte Qualität ausspielen: Sie ist volksnah-sympathisch, lächelt viel und wirkt beim Autogrammkarten-Schreiben wie eine, die ansprechbar ist, sich kümmert und der Politik Spaß macht. "Es ist das echte Berliner Leben, und wenn man an so einen Stand geht, bekommt man ungefiltert Rückmeldung", sagt sie im September bei einem Wahlkampf-Auftritt in der Wilmersdorfer Straße.
Eine Frage der Glaubwürdigkeit
"Ungefilterte Rückmeldung" hat Giffey zu diesem Zeitpunkt schon reichlich bekommen. Ein älterer Mann kommt ohne Umschweife auf die Affäre um ihre Doktorarbeit zu sprechen. Ruhig und sachlich erläutert er der Kandidatin, wie richtiges Zitieren und wissenschaftliches Arbeiten geht. "Das kriegt man doch von selbst mit und dann beherzigt man das eigentlich", sagt er bedächtig. Und dabei schwingt neben der Enttäuschung durchaus Sympathie mit.
Ein jüngerer Mann bleibt kurz darauf stehen und ist weit weniger nachsichtig mit Giffey. "Woher soll ich nach diesen Vorgängen den Glauben an Ihre Integrität nehmen?", fragt er. Sie habe ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben, erwidert Giffey. Sollten ihr dabei Fehler unterlaufen sein, bedauere sie das. "Fehler", fragt der Mann fassungslos, "und kein Vorsatz?" Giffey verneint. Der Mann schüttelt den Kopf. Er sei selbst Wissenschaftler und habe einen Doktortitel. Ihm geht es um Glaubwürdigkeit. Giffey sagt, sie wolle Gutes für die Stadt bewirken. Es geht hin und her, aber Bürger und Bürgermeister-Kandidatin kommen nicht zusammen.
"Nach vorne gucken. Weiterarbeiten."
"Ich bin nicht der Typ fürs Bereuen", das ist die einfache Antwort von Giffey auf die schwierige Frage im rbb-Radiointerview, als sich kurz vor der Wahl herausstellt, dass sie nicht nur bei ihrer Promotion, sondern bereits Jahre zuvor bei ihrer Masterarbeit unsauber gearbeitet hat. Einen Zusammenhang zwischen politischer Glaubwürdigkeit als Regierende Bürgermeisterin und der intellektuellen Redlichkeit bei Hochschulprüfungen lässt Giffey nicht gelten. Zu den Plagiats-Vorwürfen gebe eine Anwaltskanzlei Auskunft, sagt sie. Über ihre Zukunft als Regierende Bürgermeisterin müssten die Berlinerinnen und Berliner entscheiden. Rechtfertigen will sie sich gar nicht, sondern: "Nach vorne gucken. Weiterarbeiten. Und dafür sorgen, dass es in der Stadt besser wird."
Was anderen Politikern als kaltschnäuzig oder unbelehrbar übelgenommen würde: Franziska Giffey gelingt es, ihren Mangel an Schuldbewusstsein als Gradlinigkeit zu verkaufen. Und sie kommt damit an: Zwei ältere Damen strahlen übers ganze Gesicht, als sie Giffey unter dem SPD-Schirm entdecken, und wünschen ihr "ganz viel Kraft". Das sind Momente, in denen die 43-Jährige drauf los berlinert, und in denen sie zur modernen und weiblichen Verkörperung der klassischen sozialdemokratischen Aufstiegserzählung wird.
Aufgewachsen ist Giffey in Briesen bei Fürstenwalde. Die Mutter ist Buchhalterin, der Vater KFZ-Meister, nach der Wende wurden beide zunächst arbeitslos und mussten neu anfangen. Ihr Bruder hat heute eine Auto-Werkstatt und verkauft neuerdings auch Elektroroller, wie Giffey auf einem Termin mit jungen Unternehmern erzählt. Sie selbst zieht weg nach Berlin, um dort ihren Weg zu machen.
Politische Heimat: Neukölln
Giffeys Berufswunsch war eigentlich Lehrerin. Doch die Ärzte rieten ihr wegen Problemen mit der Stimme davon ab. Sie wechselte von der Humboldt-Universität auf die Fachhochschule für Wirtschaft und Recht, arbeitete in der Bezirksverwaltung und trat in die SPD ein. Mit 32 Jahren wurde sie Bildungsstadträtin in Neukölln, mit 36 Bezirksbürgermeisterin in Deutschlands bekanntestem Problem-Bezirk und mit 39 Jahren Bundesfamilienministerin.
Entdeckt und zur Neuköllner Europa-Beauftragten gemacht hat sie vor fast 20 Jahren Heinz Buschkowsky. Anders als ihr Mentor setzt sie mehr auf gute Laune und weniger auf knallharte Sprüche. Was die beiden Partei-Rechten aber eint, ist die Politik der klaren Kante. Giffey holte in ihrer Neuköllner Zeit Wachschutz an schwierige Schulen, ließ das Ordnungsamt nachts im Park patrouillieren und sagte kriminellen Clans den Kampf an. In den Koalitionsverhandlungen setzte sie die Option auf langfristige Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen durch. Für viele in der traditionell linken Berliner SPD war das eine Zumutung, genauso wie schon das Wahlprogramm, bei dem Giffey ihren Ruf nach Sauberkeit, Sicherheit und weitestgehend freier Fahrt fürs Auto ohne nennenswerten Widerstand durchsetzen konnte.
Ohne Ochsentour, mit Ost-Biografie
Ob der linke SPD-Landesverband und ihre bürgerliche Vorsitzende nach der überraschend gewonnen Wahl zusammenwachsen, ist noch lange nicht entschieden. Dass Giffey mit einer Ampel-Koalition geliebäugelt hatte, ließ die Partei ihr im Wahlkampf durchgehen, aber mehr als kurze Sondierungsgespräche mit der FDP war nicht drin. Bei der Entscheidung für Rot-Grün-Rot musste Giffey sich fügen, für einen innerparteilichen Machtkampf fehlte ihr die Basis.
Denn ihren Einfluss in der Partei verdankt Giffey bisher vor allem einer strategischen Allianz mit dem mächtigen Fraktionschef im Abgeordnetenhaus. Anders als der Spandauer Raed Saleh ist Giffey nicht besonders tief in der Partei verwachsen. Die klassische Ochsentour hat sie nie absolviert. Ihre Berufung ins Bundeskabinett verdankte sie vor allem prominenten Fürsprechern wie dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke (SPD). Er und andere wollten eine Frau mit Ost-Biografie in der Regierung sehen, Giffeys Herkunft aus Brandenburg gab den Ausschlag. Nun hat sie die Chance, mit gerade mal 43 Jahren als Ministerpräsidentin neue Netzwerke zu knüpfen. Wie gut sie darin ist, muss sie niemandem mehr beweisen.
Die "Möglich-Macherin"
Wie Giffey Politik macht und Menschen mitnimmt, lässt sich bei fast allen ihren Terminen beobachten. Beim Besuch junger Start-ups in einem Büro-Loft in Mitte zum Beispiel dreht sich das Gespräch schnell um Digitalisierung und eine Verwaltung, die eher bremse als helfe. Einen Berlin-App-Store brauche die Stadt, schlägt einer der Gründer vor. In dem alles gebündelt sei, von Verwaltungsdienstleistungen über Formulare bis hin zu Apps für spezielle ÖPNV-Kundengruppen. Giffey hat da schon längst ihr rotes Leder-Notizbuch gezückt und sich mit dem Füller Stichworte notiert.
Sie lächelt, fragt nach. "Wir müssen das zusammenbringen", sagt sie. Die Verwaltung mit ihren Mitarbeitern und deren Erfahrung und das Know-how der Berliner Digital-Wirtschaft. Als die Gründer skeptisch gucken, schiebt sie einen ihrer typischen Sätze hinterher: "Es gibt immer und überall die Bedenkenträger und die Möglich-Macher." Auf welcher Seite Giffey sich sieht, ist dabei völlig klar. Falls sie Bedenken hat, zeigt sie sie nicht. Wo es Möglichkeiten gibt, greift sie zu.
"Wer ich bin und was ich kann, ist nicht abhängig von diesem Titel." Diesen Satz hat Franziska Giffey gepostet, kurz nachdem sie als Familienministerin zurückgetreten ist. Die Wählerinnen und Wähler haben ihr Recht gegeben.
Sendung: rbb 88.8, 20.12.2021, 09:10 Uhr