Interview | Hannah Pirot, Fridays for Future - "Die Bevölkerung wird höchstem Risiko ausgesetzt. Das ist für mich undemokratisch"

Fridays for Future kritisiert den verkündeten Klimakurs der neuen Bundesregierung - vor allem über soziale Medien, statt auf der Straße. Ändert sich gerade die Bewegung? Hannah Pirot, Sprecherin des Berliner Ablegers, über die Zukunft des Klimaprotests.
rbb: Großdemos, also Bilder von tausenden, entschiedenen, lebendigen, immer friedlichen jungen Leuten hier aus Deutschland und auch sonst in Europa und der Welt gibt es im Moment nicht. Corona macht dies unmöglich. Ist damit Fridays for Future der Wind aus den Segeln genommen?
Hannah Pirot: Ich persönlich fand es sehr beeindruckend, dass wir immer noch auf der Straße standen in Corona-Zeiten. Sehr häufig oder so häufig, wie es eben ging - uns ist total wichtig, die Hygiene-Maßnahmen einzuhalten. Und außerdem haben wir online Streiks veranstaltet. Unsere Aktionen wurden viel kreativer als vorher. Wir hatten teilweise Streiks mit Plakaten, 11.000 Plakaten vor dem Bundestag - anstatt von Menschen.
Aber natürlich war es auch härter und auch traurig, niemanden mehr richtig auf der Straße zu sehen. Aber ich war trotzdem total ergriffen, wie viel Durchhaltevermögen wir hatten.
Ist denn das Ruder nun rumgerissen?
Absolut nicht. Wir sind auf dem falschen Kurs weiterhin, und das ist ganz klar und katastrophal.
Die Bundesregierung will aus der Kohle aussteigen - viel früher, als in einem großen Konsens, der viel Aufwand bedeutete, vereinbart war. Das sind doch Fakten, das sind doch Ziele?
Also wir sehen einige Fortschritte. In Berlin zum Beispiel kann man sagen: Berliner Klimapolitik ist noch relativ progressiv im Gegensatz zu anderen Regionen. Aber das schießt immer noch am 1,5-Grad-Ziel vorbei. Und eigentlich müsste man sagen: an der 1,5-Grad-Grenze. Es ist nämlich kein Ziel. Es ist eine Grenze. Es gibt nichts, was wir sonst irgendwie anstreben können. 1,5 Grad - das ist das einzige, was unsere Lebensgrundlagen bewahrt. Fridays for Future fordert das Mindestmaß an Klimaschutz. Und das wird aktuell nicht erreicht. Das sagt die Wissenschaft ganz klar. Deshalb dürfen wir keine Politik mehr fahren nach dem Prinzip: Wir tun, was wir gerade können. Sondern wir müssen eine Politik machen nach dem Prinzip: Wir tun, was getan werden muss. Das ist aktuell leider nicht der Fall.
Bei welcher Wissenschaft holt sich Fridays for Future die Informationen?
Wir haben Scientists for Future. Das ist ein Verbund von mehreren Tausend Wissenschaftlern, die sich zusammengeschlossen haben, um uns zu unterstützen und zu sagen: Wir stehen hinter diesen Forderungen. Diese Forderungen sind wirklich umsetzbar. Das sagen auch Studien. Wir werden hier laut, um zu sagen: Hört doch mal auf die Wissenschaft, macht nicht Politik, weil ihr mehr Profit machen wollt, weil ihr mehr Wählerstimmen haben wollt. Macht Politik, um unsere Lebensgrundlage zu retten.
Was macht denn Berlin besser?
In Berlin haben wir gerade sehr gute Voraussetzungen, um zum Beispiel eine autofreie Innenstadt zu schaffen, um sozialgerechte Sanierungen von Wohnungen zu schaffen, eine energetische Sanierung, die nicht auf den Schultern der Mieter:innen ausgetragen wird. Wir haben super Voraussetzungen in Berlin. Wir müssen anfangen zu handeln und nicht immer drumrumreden.
Ich rede sehr, sehr häufig mit Politiker:innen, die mir sagen: Ich finde es super, was du machst. Toll, dass du auf der Straße stehst! Doch: All das wollen wir nicht mehr hören. Wir wollen wirklich Handlungen sehen.
Wird Fridays for Future langsam zu einer Lobbygruppe, so eine Art NGO mit vielen jungen Gesichtern?
Wir sehen uns nicht als Organisation, wir sehen uns als Bewegung. Wir sind überzeugt, dass Wandel von der Straße kommt; dass wir einfach Druck machen müssen; dass die Politik mitkriegen muss; dass sich extrem viele erheben. Wir haben es ja gesehen am 20. September zum Beispiel gingen 1,4 Millionen Menschen in Deutschland auf die Straßen. Es war der größte Klimastreik überhaupt.
Die Politik muss handeln. Dazu sind wir da, diesen Druck aufzubauen und zu sagen: "Wir machen da einfach nicht mehr mit!" Deshalb sehen wir uns ganz klar als Bewegung von der Straße. Wir sind auch unabhängig, lassen uns nicht finanzieren von Organisationen oder von Parteien. Wenn dann lassen wir uns von Privatspenden finanzieren. Oder wir investieren eben selbst in unsere Bewegung.
Nach zwei Jahren Schule schwänzen - gut, vielleicht nicht jeden Freitag - wird man da so ein bisschen mürbe? Sie bereiten sich gerade auf das Abitur vor, und sie machen das trotzdem...
Also für mich ist es einfach eine Gewissenssache geworden. Als ich bei meinem ersten Streik war, das war im Januar 2019, da habe ich schon gemerkt, ich kann jetzt nicht mehr weggehen. Ich habe gemerkt, ich habe hier eine Verantwortung. Und ich habe jetzt gesehen, worum es geht. Ich habe die jungen Menschen gesehen, die verzweifelt sind. Und zwar zu Recht. Ich kann jetzt nicht gehen. So privilegiert, wie ich bin in Berlin als Gymnasiastin bin, kann ich nicht gehen und sagen: "Mein Abitur ist mir jetzt das allerhöchste Gut und alles andere ist mir egal."
Wir müssen alle schauen, dass wir eben diesen Druck aufbauen. Also ich persönlich kann das sogar relativ gut nebenbei stemmen gerade. Ich achte auch darauf, dass ich nachhaltigen Aktivismus betreibe. Da achten wir auch in der Bewegung gegenseitig aufeinander, dass wir langfristig handlungsfähig bleiben und uns nicht total verbrennen. Nachhaltig heißt hier, dass man es auch verteilt untereinander. Wir haben Menschen, die das organisieren. Aber wir haben eine noch viel, viel größere Gruppe an Menschen, die jede Woche auf dem Streik sind.
Außerdem muss man natürlich alle Kanäle nutzen: Sie selber haben zum Beispiel einen Instagram-Kanal - hier tut es doch ganz gut, so an die 500 Abonnenten zu haben, oder?
Also vergleichsweise noch wenig. Aber ja, wir haben ganz gute Zugänge. Gerade Instagram ist zu unserer Hauptplattform geworden. Eigentlich war es Facebook - das haben jetzt die meisten in unserem Alter nicht mehr. Für uns ist es wichtig, uns zu vernetzen. Da kann Protest auch in fast jede soziale Schicht dringen. Wir müssen nämlich alle Schüler:innen erreichen in Berlin. Wir können nicht nur Gymnasiast:innen oder weiße privilegierte Berliner:innen auf unsere Streiks bringen. Wir müssen eigentlich alle erreichen. Das ist unser Anliegen.
Eine zunehmend professionelle Ansprache - ist das auch ihre eigene Profession in Zukunft? Wollen Sie da vielleicht den Satz ergänzen: Hanna Pirot ist 2030...
...jemand, der weiterhin die Politik aktiv mitgestaltet, wenn auch beruflich, aber weiterhin widerständisch.
Und ist dann 2030 Entscheidendes getan für den Klimaschutz?
Da hoffe ich: Ja. Wenn dem nicht so ist, haben wir verloren. Es geht einfach um Kipppunkte. Das sind Punkte, an denen es kein Zurück mehr gibt. Also wir müssen jetzt handeln. Wenn 2030 nicht genug geschehen ist, dann haben wir praktisch schon verloren. Dann können wir nur noch den Schaden irgendwie versuchen zu mindern. Aber auch das wird schwierig. Und wir wollen uns alle gar nicht vorstellen, was passiert, wenn wir eigentlich keine Lebensgrundlage mehr haben.
Protest - da gibt es ja Menschen, die sich auch zunehmend radikalisieren. Können Sie das verstehen? Also einen Baum besetzen - das tut dem Baum nicht so weh. Einen Bagger zu besetzen und den Bagger zu zerstören - das ist etwas anderes - wo ist bei ihnen die Grenze?
Wir sind eine breite Klimabewegung, die auf gewaltfreie Aktionen setzt und auf vielfältige kreative Aktionen - normalerweise - setzt. Wir sind solidarisch mit allen, die für die 1,5 Grad kämpfen. Das ist klar. Wir wollen natürlich gewaltfrei bleiben. Gewalt bringt uns nicht weiter. Wir müssen die Menschen überzeugen. Wir müssen zeigen, dass Klimaschutz die einzige Lösung ist - der einzige Ausweg aus unserer Situation aktuell. Das schaffen wir auch anders. Deshalb bin ich für alle gewaltfreien Aktionen.
Ich finde es einfach nur erschreckend, teilweise zu sehen, dass sich zum Beispiel junge Menschen gezwungen fühlen zu hungern, nur weil die Politik seit Langem nicht handelt, obwohl sie so viel tun könnte.
Ignoriert? - Das stimmt ja nicht. Es kam Robert Habeck von den Grünen. Viel später gab es aber auch eine Diskussion mit dem gewählten Kanzler Olaf Scholz. Über Kommunikation kann man streiten, die war sicher schwierig. Doch: Die Politik darf sich natürlich auch nicht erpressen lassen zu einer Haltung oder zu einer Kommunikationssituation.
Erstmal muss man sich fragen: Was bedeutet denn "ignorieren"? "Ignorieren" bedeutet nicht: Wir reden gar nicht mit den Leuten, wir setzen uns überhaupt nicht damit auseinander. "Ignorieren" bedeutet für mich: Die Maßnahmen wurden wieder nicht in dem Umfang eingehalten, wie es hätte sein müssen. Hier nun wieder das Prinzip: Was muss denn geschehen? Nicht nur: Was wurde jetzt getan, was ist denn schon mal positiv? "Ignorieren" bedeutet für mich, dass wir eben diese Kipppunkte erreichen werden. Das muss man leider genauso radikal sehen.
Klima macht keine Kompromisse. Klima ist kein politischer Akteur, der irgendwie mit sich verhandeln lässt. Klima hat ganz klare Grenzen. Genau deshalb bin ich auch ganz klar der Meinung: Da wurde nicht genug getan. Es war auch sehr, sehr, sehr schwierig, überhaupt die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Natürlich finde ich trotzdem gut, dass die Politik sich dahin setzt und nicht noch mehr konfrontiert. Bei dem Thema würde ich auch das Wort "Erpressung" nicht unbedingt so verwenden, denn der Hungerstreik war in dem Sinne eine sehr radikale Form, darauf hinzuweisen, das große Zahlen der jungen Bevölkerung und auch mittlerweile der älteren Bevölkerung hinter den Klimaschutzmaßnahmen stehen und dass sie sagen: "Wir brauchen diese Maßnahmen jetzt sofort, sonst haben wir keine Chance mehr."
Es war eigentlich eine höchst demokratische Aktion. Große Teile der Bevölkerung werden ignoriert. Maßnahmen werden nicht eingehalten. Unsere gesamte Bevölkerung wird höchstem Risiko ausgesetzt. Das ist für mich eher undemokratisch. Und das war eine Aktion, darauf hinzuweisen. Das heißt: "Hallo, erkennt mal bitte die Dramatik der Lage an!"
Und vielleicht mal der neuen Regierung oder speziell Olaf Scholz einen Satz ins Ohr geflüstert?
Hört auf euer Gewissen!
Danke für das Gespräch.
Das Interview mit Hannah Pirot führte Christian Wildt für Inforadio. Dieser Text ist eine gekürzte und redigierte Version des Interviews, das Sie oben im Beitrag komplett als Audio hören können.
Sendung: Inforadio, 04.01.2021, 10.45 Uhr