Interview | Konflikt in Zentralasien - "Niemand kennt dieses Land Kasachstan - das wird sich jetzt ändern müssen"
Seit letzter Woche herrschen in Kasachstan Unruhen. Zunächst wurde gegen stark gestiegener Energiepreise protestiert. Mittlerweile wurde Russland um Hilfe gebeten. Um was geht es aber bei diesem Konflikt? Fragen an die Journalistin Edda Schlager.
rbb: Frau Schlager, Kasachstans Präsident Qassym-Schomart Toqajew spricht von einem versuchten Staatsstreich bewaffneter Kämpfer. Für die Proteste macht er sogar ausgebildete Terroristen im Ausland verantwortlich. Gibt es gesicherte Informationen, wer auf den Straßen demonstriert und wie sich die Leute genau organisieren?
Edda Schlager: Die Menschen, die auf die Straße gegangen sind, sind ganz unterschiedlicher Herkunft, und man kann sie nicht über einen Kamm scheren. Das ist das Wichtigste, was wir jetzt hier gerade leisten müssen: Differenziert hinzuschauen, was in den vergangenen Tagen in Kasachstan passiert ist.
Es gab tatsächlich anfangs Proteste gegen die gestiegenen Brennstoffpreise. Diese Proteste sind übergegangen in eine allgemeine Kritik an der Regierung, an fehlender politischer Teilhabe. Im Laufe der Zeit ist das aber umgeschlagen in massive Ausschreitungen in Kasachstan und vor allen Dingen in Almaty, der größten Stadt des Landes. Und mittlerweile kann man, denke ich, davon ausgehen, dass dort die ursprünglichen Proteste gekapert wurden von Gruppen, die Unruhe stiften wollten.
Wer ganz genau dahinter steckt, ist bisher nicht ganz klar. Toqajew hat das deklariert als Terroristen und als einen möglichen Versuch, von außen Einfluss zu nehmen. Man kann bisher nicht sagen, wer das wirklich war. Ich vermute, es war niemand aus dem Ausland. Es geht dort um innerkasachische Konflikte.
Können Sie erklären, warum die eigene Bevölkerung die hohen Energiepreise nicht bezahlen kann, obwohl das Land doch vom Öl- und Gasexport lebt?
Für uns klingen die Preise für Kraftstoff, um die es dort geht, fast lächerlich. Die wurden von etwa zehn bis 20 Cent auf etwa das Doppelte erhöht. Man muss aber wissen, dass Kasachstan einen sehr niedrigen Lebensstandard hat. Das monatliche Durchschnittseinkommen liegt etwa bei 350 Euro. Und da schlagen solche Preise stark zu Buche. In Kasachstan ist es sehr, sehr schwierig, Arbeit zu finden. In den vergangenen Jahren hat sich zwar eine Mittelschicht entwickelt, aber eher in den ländlichen Regionen.
Es ist also sehr schwierig, die Lebensaufwendungen zu bezahlen. In erster Linie sind das wirtschaftliche Zwänge, die die Leute dort in den vergangenen Jahren unzufrieden haben werden lassen.
In zweiter Linie ist es politische Teilhabe. Diese fordern eher die Menschen in der Stadt, die auch eine gewisse Bildung haben oder überhaupt wissen, was Demokratie ist. Auf dem Land weiß man darüber eher wenig Bescheid.
Präsident Toqajew, so wird berichtet, hat das Militärbündnis OVKS um Unterstützung gebeten, das von Russland geführt wird. 2.500 Soldaten wurden nach Kasachstan entsandt. Was ist diese OVKS, die "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit"?
Das ist ein Militärbündnis, das in den 1990er Jahren gegründet wurde. Es wird von Russland geführt. Dazu gehören noch Armenien, Kirgistan, Tadschikistan und Belarus. In diesem Fall sind die Bündnispartner zu Hilfe gerufen worden. Das ist auch das allererste Mal geschehen, so dass man jetzt also innerhalb der Bündnispartner von einer Friedensmission spricht, um in Kasachstan für Ordnung zu sorgen.
Russlands Präsident Wladimir Putin selbst sprach davon, er werde eine Revolution in Kasachstan nicht zulassen. Halten Sie es für möglich, dass die Proteste auf den Straßen von politischen Machtkämpfen instrumentalisiert werden könnten?
Ich kann das nicht belegen, und das kann zum momentanen Zeitpunkt wahrscheinlich kaum jemand machen. Ich weiß auch nicht, ob es in Kasachstan jemals zu einer Aufarbeitung kommen wird. Aber die Vermutung liegt nahe. In jedem Fall sind es innerkasachische Konflikte, die dort ausgetragen werden. Vielleicht kann man von einem Elitenkampf sprechen.
Aber es ist sehr schwierig zuzuordnen, wer dort die Hände im Spiel gehabt haben könnte. Es gibt im Prinzip zwei Lager, die dort sicherlich involviert waren: zum einen Anhänger des jetzigen Präsidenten Toqajew, zum anderen Unterstützer des Ex-Präsidenten Nursultan Nasarbajew. Er hat 2019 freiwillig sein Amt quittiert - was damals auch viele Menschen überrascht und geschockt hat -, aber seitdem im Prinzip im Hintergrund die Fäden weiterhin in der Hand und die Geschicke des Landes gesteuert.
Möglicherweise gibt es auch noch andere Interessengruppen. Davon kann man aber momentan noch nicht sprechen, geschweige denn, dass man sagen könnte, wer dort irgendwie noch involviert ist.
Wenn ich richtig informiert bin, ist Kasachstan ein multikultureller Staat. Es gibt dort über 120 Ethnien, und die Bevölkerung Kasachstans ist vor allem seit 2005 gerade gegenüber Russland immer kritischer eingestellt. Wie würden Sie das Verhältnis zu Russland beschreiben?
In Deutschland weiß man relativ wenig über Kasachstan. Diese Ethnien, die Sie gerade genannt haben, leben dort relativ friedlich miteinander. Es kommt aber immer wieder zu Konflikten. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich das Verhältnis von Minderheiten und Mehrheiten ein bisschen verschoben. Früher waren russischsprachige Kasachstaner in der Mehrheit. In den vergangenen Jahren hat sich das umgekehrt, und jetzt gibt es etwa 70 Prozent ethnische Kasachen. Und gegenüber Russland hat sich Kasachstan in den vergangenen Jahren immer sehr stark abgegrenzt. Man wollte von Russland, das natürlich deutlich mächtiger ist, auf Augenhöhe wahrgenommen werden.
Es wurde auch ein Bündnis geschlossen, die Eurasische Wirtschaftsunion. Im Rahmen dieses Bündnisses hat Kasachstan immer wieder versucht, eine politische Vereinnahmung durch Russland von sich fernzuhalten. Das ist eigentlich auch ganz gut gelungen. Ex-Präsident Nasarbajew hat bereits eine sogenannte Multivector-Politik gepflegt, wo man mit allen Großmächten - sowohl mit Russland, China, aber auch der EU und den USA - versucht hat, ungefähr auf einer Höhe zu bleiben und keinen zu bevorzugen. Diese Politik hat Toqajew fortgesetzt.
Deshalb waren wir als Beobachter auch völlig überrascht, dass Toqajew im Zuge dieser Ausschreitungen das Bündnis angerufen hat und vor allen Dingen Russland um Unterstützung gebeten hat.
Was sollte der Westen und die EU jetzt tun?
Der Westen und die EU hätten schon länger ihr Interesse an dieser Region bekunden sollen. Dadurch, dass die EU - und die USA ebenso - so viel mit sich selbst beschäftigt sind, hat man das Interesse an dieser Region Zentralasien verloren. Es gab zwar Zentralasien-Strategien, auch initiiert von Deutschland für Zentralasien. Aber tatsächlich ist das einfach nur was auf dem Papier gewesen.
Letztendlich ist dem Westen der gleiche Fehler unterlaufen wie Russland auch. Denn Russland hat dort auch nicht so interessiert hingeschaut, wenn man an anderen Krisenherden tätig war. Jetzt fehlt uns die Expertise für diese Region. Was ist dort eigentlich los? Niemand kennt dieses Land Kasachstan und schon gar nicht Zentralasien. Aber vielleicht wird sich das im Zuge dieser Krise jetzt ändern müssen. Wir werden sehen, wie sich das geopolitisch dort weiterentwickelt. Und da wird auch die EU, wie auch Deutschland, Stellung beziehen müssen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Edda Schlager führte Florian Schroeder für den Radioeins-Podcast "wach und wichtig".
Das Gespräch ist eine redigierte und gekürzte Version. Die Hörfunkfassung können Sie oben im Audio-Player nachhören.
Sendung: Radioeins, 11.01.2022, 05:00 Uhr