Frauen in der Rentenfalle - "Man kann wirklich sagen: Altersarmut ist weiblich"
Frauen in Deutschland bekommen im Schnitt nur halb so viel Rente wie Männer. Die Ursachen von weiblicher Altersarmut sind lange bekannt - doch auch die neue Grundrente löst das Problem nicht. Von Anne Kohlick
"Es ist zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig", sagt Christa Vieten. Die 74-jährige Neuköllnerin lehnt sich auf dem Kranoldplatz an ihren Rollator und zieht an ihrer Zigarette. "Knapp 700 Euro bekomme ich aus meiner gesetzlichen Rente", erzählt sie. Restaurantbesuch oder Kino? Sowas ist für sie nicht drin. "Ich kann mir auch nicht alles kaufen, was ich gern essen würde." Vor Corona war sie deshalb regelmäßig bei der Tafel, um sich dort Lebensmittelspenden abzuholen.
Christa Vieten will sich nicht beklagen, anderen hätten viel weniger: "Ich habe Glück, dass bei mir noch Witwenrente und eine kleine Betriebsrente dazukommen, weil ich früher beim Senat gearbeitet habe." Die letzten Jahre vor ihrer Rente war sie Pförtnerin bei der Berliner Senatsverwaltung für Bildung - zuvor Köchin in einer Kita. Zusammengerechnet kommt sie durch Betriebsrente, Witwenrente und gesetzliche Rente auf knapp 1.000 Euro monatlich.
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54.000 Rentnerinnen in Berlin unter der Armutsschwelle
Mit diesem Einkommen gehört Christa Vieten zur großen Gruppe der Rentnerinnen in Berlin, die unter der Armutsschwelle leben. 54.000 Frauen über 65 Jahre sind nach Angaben des Senats betroffen. Sie haben weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens - 2018 waren das in Berlin unter 1.004 Euro monatlich. Deutschlandweit lebt laut statistischem Bundesamt jede sechste Frau über 65 Jahre unter der Armutsschwelle - bei den Männern ist es jeder Achte.
Der Unterschied zwischen den Geschlechtern wird noch deutlicher, wenn man den "Gender Pension Gap" berechnet - also die Lücke zwischen den Renten von Männern und Frauen. Die OECD hat das für ihre europäischen Mitgliedstaaten getan - und dafür gesetzliche Rente, Betriebsrente und private Altersvorsorge zusammen betrachtet. Das Ergebnis: In Deutschland liegt die Rentenlücke zwischen den Geschlechtern bei 46 Prozent - und ist damit die größte von allen untersuchten Staaten [oecd.org].
"Wer wenig verdient, kriegt eine Rente, von der er nicht leben kann"
Deutsche Frauen bekommen im Schnitt also nur halb so viel Rente wie Männer. "Diese Zahlen sind eklatant", sagt die Berliner Journalistin und Autorin Kristina Vaillant. "Da kann man wirklich sagen: Altersarmut ist weiblich." Vaillant hat sich für ihr Sachbuch "Die verratenen Mütter" intensiv mit dem deutschen Rentensystem auseinandergesetzt - und mit der Frage, warum es so viele Frauen mit Altersarmut bestraft.
"Im Moment haben wir ein Rentensystem, das vor allem leistungsbezogen ist", erklärt die Autorin beim Gespräch in ihrem Kreuzberger Büro. "Mit anderen Worten: Wer viel verdient, kriegt eine gute Rente. Wer wenig verdient, kriegt eine Rente, von der er nicht leben kann." Wobei mit "er" oft "sie" gemeint ist - denn Frauen sind im Niedriglohnsektor überproportional vertreten.
Auch mit zwölf Euro Mindestlohn wird die Rente kaum reichen
Jede vierte Frau in Deutschland arbeitet in diesem Bereich - zum Beispiel als Reinigungskraft, Küchenhilfe oder wie Christa Vieten als Pförtnerin, aber nur jeder sechste Mann. In vielen dieser Jobs wird Mindestlohn gezahlt - mehr nicht. Zwar soll der ab Oktober auf zwölf Euro pro Stunde steigen, aber Kristina Vaillant weiß, dass das nicht genug ist, um Altersarmut zu vermeiden: "Selbst dann würden nicht einmal 45 Beitragsjahre in Vollzeit ausreichen, um nachher eine Rente zu haben, von der man leben kann."
Das Handelsblatt hat berechnet, dass es einen Stundenlohn von 13,06 Euro bräuchte, um im Alter über der Grundsicherung zu liegen - bei 38 Stunden Vollzeit und 45 Beitragsjahren. Geht man von 35 Beitragsjahren aus, wären es sogar 14,68 Euro [handelsblatt.com]. Das wahrscheinlich sinkende Rentenniveau ist da noch nicht eingerechnet - ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Hälfte der Frauen in Deutschland in Teilzeit arbeitet.
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Frauen verdienen im gesamten Berufsleben nur halb so viel wie Männer
Auch Christa Vieten hat die Arbeitszeit als Mutter reduziert - und ist dann in der Teilzeit-Falle hängengeblieben: "Ich habe überwiegend halbtags gearbeitet - vor allem wegen der Kinder." Als die aus dem Haus waren, habe sie einen Antrag gestellt, erzählt sie, um ihre Arbeitszeit auf acht Stunden pro Tag zu erhöhen. "Aber es gab damals einen Einstellungsstopp beim Senat. Und deswegen habe ich bis zum Schluss nur vier Stunden gearbeitet."
Weil Frauen oft in Teilzeit sind, um mehr Care-Arbeit leisten zu können, viele im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und der Gender Pay Gap ihr Gehalt zusätzlich schmälert, verdienen sie im Laufe eines gesamten Berufslebens im Schnitt nur halb so viel wie Männer [bertelsmann-stifung.de | Studie zu Lebenserwerbseinkommen als PDF]. Das spiegelt sich in der späteren Rente.
Eine Ausnahme bilden Frauen, die keine Kinder bekommen. Bei ihnen fällt der Unterschied im Lebenseinkommen im Vergleich zu Männern viel kleiner aus: Er liegt bei zwölf Prozent in West- und drei Prozent in Ostdeutschland. "Man nennt dieses Phänomen auf Englisch die 'Motherhood Lifetime Penalty', also eine lebenslange Strafe für Mütter", erklärt Finanz-Expertin Margarethe Honisch. Als "Fortunalista" gibt sie Frauen Investment-Tipps auf Social Media. Sie macht ihren Followerinnen bewusst: "Je mehr Kinder eine Frau kommt, desto weniger Geld verdient sie im Laufe ihres Lebens. Bei einer Frau, die zwei bis drei Kinder hat, kann das bis zu einer Million Euro weniger sein."
60 Prozent der Frauen haben Angst vor Altersarmut
Wer diese Zahlen kennt, wundert sich nicht, dass die Mehrheit der Frauen in Deutschland Angst vor Altersarmut hat: Laut der Brigitte-Studie von 2021 machen sich rund sechzig Prozent der Befragten Sorgen, als Rentnerin zu wenig Geld zum Leben zu haben. "Diese Angst ist begründet", sagt Autorin Kristina Vaillant. Von 2008 zu 2018 ist der Anteil von Frauen in Altersarmut deutschlandweit gewachsen: von 13,6 auf 16,4 Prozent. "Wenn sich an unserem Rentensystem nichts grundsätzlich ändert, wird diese Zahl sicherlich noch steigen."
Die 2021 eingeführte Grundrente - ein Zuschlag von maximal 418 Euro monatlich auf besonders niedrige Renten - sieht Kristina Vaillant zwar als richtigen Schritt. "Aber es ist nicht die Lösung des Problems". Die Berechnung sei zu kompliziert, kritisiert sie, und die Hürden für den Anspruch auf die Grundrente zu hoch. So braucht man mindestens 33 Beitragsjahre, um den Zuschlag zu bekommen. "Wenn man sich die Rentnerinnen von heutzutage anguckt, ist es aber so, dass sie auf durchschnittlich 28 Beitragsjahre kommen", sagt Kristina Vaillant. "Das ist ein Grund, aus dem sehr viele nicht profitieren werden von dem neuen Zuschlag."
Die Niederlande haben eine bedingungslose Grundrente
Kristina Vaillant plädiert deshalb dafür, das deutsche Rentensystem grundsätzlich zu reformieren und solidarischer zu gestalten - zum Beispiel nach dem Vorbild der Niederlande. Dort bekommen alleinstehende Rentner:innen 1250 Euro monatlich vom Staat - unabhängig davon, wie viel sie gearbeitet haben und wie hoch ihr Verdienst war. Einzige Voraussetzung: Die Person muss nach dem 15. Lebensjahr 50 Jahre in den Niederlanden gelebt haben. Hier erklären unsere ARD-Kolleg:innen von "Plusminus" dieses Rentenmodell genauer [daserste.de].
Ob Christa Vieten durch die neue Grundrente mehr Geld bekommt, weiß sie noch nicht. Sie hat noch keinen Bescheid bekommen: "Bei meinem Glück falle ich da mal wieder hinten runter", befürchtet sie. Statt auf Hilfe vom Staat zu warten, setzt sie auf Selbsthilfe. Dafür hat sie in Neukölln den Verein "Die Superarmen" gegründet, in dem sich arme Menschen gegenseitig helfen: "Wir gehen einkaufen, wenn Leute gerade nicht aus dem Haus können - zum Beispiel weil sie krank sind", erklärt Christa Vieten. "Wenn jemand einen Hund hat und ins Krankenhaus muss, dann kümmern wir uns um den. Wir helfen dabei Anträge auszufüllen, für den Schwerbeschädigtenausweis und Ähnliches."
Manche Aufgaben, die sich der Verein gesetzt hat, sind kleine Gesten, Nachbarschaftshilfe. Aber sie bedeuten viel - nicht nur für die Menschen, denen geholfen wird, sondern auch für die Vereinsmitglieder selbst. "Ich bin nicht allein, ich sitze nicht zu Hause vor dem Fernseher", sagt Christa Vieten. "Es ist ein schönes Gefühl, gebraucht zu werden."
Sendung: "Niedrige Rente bei Frauen", Episode der rbb|24-YouTube-Reihe "Jetzt mal konkret", online seit 16.02.2022