Lebensmittelverschwendung in Berlin - "Mir tut es weh, dass die perfekten Orangen im Müll liegen"
Täglich landen Lebensmittel der Supermärkte im Müllcontainer. Der Protest vom "Aufstand der letzten Generation" gegen Lebensmittelverschwendung ist umstritten. Doch von ihrem geforderten Gesetz könnte die Berliner Tafel profitieren. Von Naomi Donath
Als Carla Hinrichs an einem Mittag im Januar Orangen und Baguettes aus der Abfalltonne eines Supermarkts in Berlin-Gesundbrunnen herausholt, kommt nach wenigen Minuten die Polizei. Es gibt einen Clip von der Begegnung auf Twitter, mehr als 180.000 Menschen haben ihn gesehen. Ein Polizist wirft die geretteten Lebensmittel zurück in den Müllcontainer.

"Das ist absurd", sagt Carla Hinrichs. "Mir tut es weh, zu sehen, dass da die perfekten Orangen im Müll liegen. Mir reißt das was raus, wenn ich gleichzeitig sehe, dass Menschen Hunger leiden." Sie habe die Lebensmittel an bedürftige Menschen verteilen wollen. Carla Hinrichs erzählt, die Polizei habe ihre Personalien aufgenommen und sie in Gewahrsam genommen. Drei Stunden habe sie in einer Zelle gesessen, bevor sie wieder freigelassen wurde. Nun sei gegen sie ein Strafverfahren wegen Diebstahls eingeleitet worden.

Diebstahl und Hausfriedensbruch
Containern ist strafbar, wenn der Müllcontainer abgeschlossen ist oder auf einem abgeschlossenen Areal, etwa hinter einem Zaun, steht. Wer über eine Absperrung klettert oder ein Schloss aufbricht, riskiert eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs - und eine strafrechtliche Verfolgung wegen Diebstahls. Carla Hinrichs sagt, das sei absurd: Die Schadenshöhe, die bei ihr aufgeschrieben wurde, betrage null Euro. Der Berliner Rechtsanwalt Patrick Jacobshagen erklärt: "Die Eigentumsgarantie, die man laut Artikel 14 Grundgesetz hat, erstreckt sich auch auf wertlose Sachen. Es ist meine Entscheidung, was ich behalten möchte - nur, weil es wertlos ist, darf man es mir nicht wegnehmen."
Containern soll legalisiert werden
Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) hat angekündigt, Containern legalisieren zu wollen. Doch Carla Hinrichs reicht das nicht. "Containern zu legalisieren, packt das Problem nicht bei der Wurzel. Dann schmeißen wir immer noch Lebensmittel weg und Menschen holen sich das Essen aus dem Müll. Nein - das ist kein respektvoller Umgang mit Essen."
Hinrichs engagiert sich bei der Protestbewegung "Aufstand der letzten Generation". Die Klima-Aktivist:innen blockieren Autobahnen, auch in Berlin. Ihre Protestform ist umstritten. Sie fordern ein "Lebensmittel-retten-Gesetz" und verweisen dabei auf den Gesetzesentwurf der Klimaschutzorganisation "German Zero"[germanzero.de, PDF, Seite 439). Vorbild der Aktivist:innen ist Frankreich. Dort müssen Supermärkte, deren Verkaufsfläche größer ist als 400 Quadratmeter, unverkäufliche Lebensmittel an wohltätige Organisationen spenden. Sie dürfen sie nicht mehr in den Müll werfen.

Haftungsrisiko der Supermärkte
Supermärkte schließen ihre Container ab, um nicht für mögliche Lebensmittelvergiftungen haftbar gemacht zu werden. Das bestätigt Aldi Nord rbb|24: "Wir können […] auch aus haftungsrechtlichen Gründen das so genannte 'Containern' nicht tolerieren." Lebensmittel, die im Abfallbehälter sind, seien dort aus gutem Grund, sagt Phillip Haverkamp vom Handelsverband Berlin-Brandenburg: "Es kann sich beispielsweise um Warenrückläufer handeln, in denen Glas- oder Metallsplitter enthalten sein können."
1,5 Prozent landen im Müll
Nachfrage beim organisierten Lebensmitteleinzelhandel in Berlin, wie viele Lebensmittel sie wegwerfen und warum: Die Discounter Lidl, Aldi Nord, Penny, Netto Marken-Discount, Netto, die Supermärkte Rewe und Edeka, die Verbrauchermärkte Kaufland und Real sowie die Bio-Supermärkte Bio Company, Denns Biomarkt und Alnatura antworten - die meisten ohne genaue Zahlen. Zusammen betreiben sie fast 1.000 Läden in Berlin. Rewe und Penny antworten, im Jahresdurchschnitt würden sie 98 Prozent ihrer Lebensmittel verkaufen. Denns teilt mit, ihre Quote an Lebensmittelabfällen liege "im unteren einstelligen Prozentbereich". Eine Studie des Thünen-Instituts aus dem Jahr 2019 kommt zu der Einschätzung, dass im Lebensmitteleinzelhandel 1,5 Prozent des Lebensmittelumsatzes weggeworfen wird.
Was alles im Müllcontainer landet
Rewe schreibt, es würden Lebensmittel weggeworfen, die verdorben oder verschimmelt sind. Dazu kommen laut Rewe Lebensmittel, deren Kühlkette unterbrochen wurde, etwa weil sich jemand beim Einkaufen umentschieden hat und ein kühlpflichtiges Produkt nicht zurück in die Kühlung gelegt hat. Auch Waren mit abgelaufenem Verbrauchsdatum landen in der Tonne - das gilt für Fleisch und Fisch.
Für die meisten Produkte gilt allerdings das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD). Das ist kein Verfallsdatum, sondern eine Herstellergarantie, dass sich bis zum aufgedrucktem Datum nichts an Form, Farbe und Geschmack des Produkts ändert. Die meisten Lebensmittel sind länger genießbar - trotzdem landen sie teilweise im Müll. Denns teilt uns mit: "Ist das Datum erreicht, darf die Ware nicht mehr verkauft oder an gemeinnützige Organisationen abgegeben werden, obwohl sie teils noch Wochen nach Erreichen des MHD bedenkenlos verzehrt werden könnte."
Märkte spenden an Berliner Tafel
Alle angefragten Supermarkt- und Discounterketten geben an, Lebensmittel an die Berliner Tafel zu spenden. Das sind Lebensmittel, die sich nicht mehr verkaufen lassen, aber noch genießbar sind, etwa ein Apfel mit einer Druckstelle. Nur vereinzelt gibt es Filialen, die nichts an die Tafel spenden. Die Berliner Tafel bestätigt, dass sie von rund 1.000 Märkten in Berlin Lebensmittel bekommt.

Tafel erreicht nicht alle Bedürftigen
130.000 bedürftige Menschen in Berlin bekommen jeden Monat Lebensmittel von der Tafel. Doch der Bedarf ist größer: Mehr als 750.000 Menschen in Berlin gelten als arm oder von Armut bedroht, laut Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands 2021.
"Wir erreichen den minimalsten Teil derer, die arm sind", erzählt Sabine Werth. Sie hat vor 29 Jahren die Berliner Tafel gegründet. "Mich irritiert, dass aus den Containern noch so unheimlich viel rauszuholen ist", sagt Werth. "Theoretisch sind wir bei all diesen Märkten. Warum schmeißen die heute was in den Container, obwohl wir heute dort waren und morgen auch wiederkommen? Das begreife ich nicht."

Berliner Tafel befürwortet Gesetz
Sabine Werth wünscht sich ein Gesetz, dass Läden verpflichtet, unverkäufliche Lebensmittel zu spenden. "Es ist an der Zeit, dass sich endlich was tut. Es wäre ein klares Signal von Seiten der Politik an diejenigen, die sich gegen Lebensmittelverschwendung engagieren." Allerdings sollten auch kleine Läden verpflichtet werden, nicht nur Läden mit einer Verkaufsfläche größer als 400 Quadratmeter, sagt Werth.
Wichtig sei aber vor allem mehr Aufklärung über Lebensmittel, sagt Werth: "Ich kenne so unendlich viele Menschen, die glauben, mindestens haltbar heißt: Absolut wegwerfen, weil morgen bin ich tot, wenn ich das heute esse." Das sei falsch. “Viele Menschen werfen ein intaktes Produkt weg, um es dann per Neukauf durch exakt dieses Produkt wieder zu ersetzen. Das ist traurig."
Sendung: rbb24, 08.02.2022