Interview | Journalistin in Kiew - "Die Ukrainer sind beunruhigt, aber sie gehen damit pragmatisch um"
In der zugespitzten Ukraine-Krise hat unter anderem die deutsche Regierung ihre Bürger dazu aufgerufen, die Ukraine zu verlassen. Unsere Kollegin Rebecca Barth ist derzeit in Kiew und schildert die Stimmung in dem Land.
rbb|24: Hallo, Rebecca. Wie geht es Dir?
Rebecca Barth: Tja, schwierig zu sagen. Tatsächlich so weit so gut. Aber natürlich ist die Lage durchaus angespannt. Und ich überlege den ganzen Tag schon, tausche mich mit Kolleginnen und Kollegen aus, wie es weiter gehen soll.
Wo genau befindest Du Dich jetzt?
Ich bin in Kiew, in der ukrainischen Hauptstadt. Ich bin jetzt seit ungefähr zwei Wochen im Land. Ich bereise die Ukraine seit einigen Jahren regelmäßig, war jetzt auf Recherche in der Ostukraine unterwegs und hatte eigentlich vor, noch einige Wochen hier in Kiew zu bleiben. Ich berichte als freie Journalistin über die Ukraine und war jetzt im Donbass an der Front, beziehungsweise in einigen Städten, die direkt an der Front liegen. Eigentlich hatte ich geplant, noch weitere Geschichten aus Kiew zu machen und die Entwicklung weiter aus der Hauptstadt zu beobachten - und vielleicht auch noch mal in die Ostukraine zu fahren. Das war ursprünglich mein Plan.
Wie nimmst Du jetzt gerade die Situation und die Stimmung in Kiew wahr?
Ich habe schon den Eindruck, dass die Stimmung kippt. Was aber nicht bedeutet, dass die Menschen panisch sind. Wir hatten gerade heute einen relativ schönen Tag - Samstag, strahlender Sonnenschein - und die Menschen sind ganz normal ihrem Alltag nachgegangen. Aber wenn man dann nachfragt, sind die Menschen schon beunruhigt. Und sie erzählen häufig, dass sie vor zwei Wochen ähnlich beunruhigt waren, dass sie angefangen haben, teilweise Pläne zu machen, wie sie sich im Falle eines Angriffs, im Falle einer Eskalation der Kämpfe - wenn tatsächlich auch Kiew angegriffen würde - verhalten würden.
Einige erzählen dann, dass sie Benzin bereitgestellt haben, um in die Westukraine zu fliehen. Und mein Nachbar hat mir heute geraten, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. Das finde ich durchaus beunruhigend, weil die ukrainische Gesellschaft eigentlich um einiges krisenfester ist als die deutsche Gesellschaft. Das heißt, die Menschen gehen relativ ruhig mit Ausnahmesituationen um. Dementsprechend überrascht war ich, das doch so deutlich von jemandem zu hören, der schon so viele Krisen erlebt hat und der in einem Land wohnt, in dem seit acht Jahren Krieg stattfindet. Das führt natürlich nicht dazu, dass ich mich jetzt beruhige.
Auf der anderen Seite müssen wir sagen: Wir wissen alle nicht, was passiert. Wir können alle nicht in die Zukunft gucken. Wir können einfach nicht absehen, wie sich diese Situation hier entwickelt.
Beobachtest du eine Angst vor einem Angriff oder vor einem Krieg?
Ich weiß nicht, ob Angst das richtige Wort ist, denn dieser Krieg läuft schon seit fast acht Jahren, und die Menschen sind daran gewöhnt. Und die Menschen sind auch daran gewöhnt, dass immer etwas passieren kann, dass die Situation immer weiter eskalieren kann, oder mal hier und da eskalieren kann. Sie hatten 2014, als der Krieg angefangen hat, Angst. Ich glaube, heute sind sie beunruhigt, aber sie gehen damit relativ pragmatisch um.
Die Menschen sagten mir: Ja, natürlich ist es beunruhigend - aber was sollen wir denn machen? Wir hoffen einfach auf das Beste. Wir versuchen, uns so gut wie möglich vorzubereiten. Wir haben Benzin bereitgestellt, um im Falle des Falles fliehen zu können. Wir haben Essensvorräte, wir haben Bargeld. Auf der anderen Seite gibt es eben diejenigen, die sagen: Nein, es wird nichts passieren. Wir haben jetzt Wochenende. Die planen ihre Clubgänge heute Nacht in der Hauptstadt.
Gibt es so etwas wie Hamsterkäufe? Oder steigen die Preise für Lebensmittel und Benzin?
Nein, so etwas wie Hamsterkäufe sehen wir nicht. Dementsprechend ist das auf den ersten Blick wirklich Alltag hier. Die Menschen verhalten sich sehr ruhig. Man muss wirklich nachfragen, um etwas zu bemerken. Wenn man jetzt einfach so durch die Straßen laufen würde, würde man keine Beunruhigung merken. Was aber tatsächlich jetzt passiert: Bei den Flugtickets in westeuropäische Staaten gehen die Preise nach oben. Und es ist zunehmend schwierig, noch Flugtickets aus Kiew zum Beispiel nach Berlin zu bekommen.
Nun hat das Auswärtige Amt heute alle deutschen Staatsbürger:innen aufgefordert, die Ukraine zu verlassen. Wie schätzt Du das ein? Und wie gehst Du selbst damit um?
Ich habe eigentlich damit gerechnet, dass die deutsche Botschaft - ähnlich wie es die EU schon gemacht hat - auch heute zu dem Schluss kommt, dass sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu auffordert, das Land zu verlassen. Das ist jetzt die, glaube ich, logische Konsequenz aus der aktuellen Lage. Aber es bedeutet eben nicht, dass dort das Wissen vorherrscht, dass hier am Mittwoch der Krieg beginnt - das sind Sicherheitsvorkehrungen. Die deutsche Botschaft, das Auswärtige Amt hat natürlich den Wunsch und das Anliegen, seine Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu beschützen. Man weiß einfach nicht, was passiert, und man möchte kein Risiko eingehen.
Und wie gehst du selbst mit dieser Warnung jetzt um?
Ich versuche, mich mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Ich versuche zu überlegen, welch einem Risiko ich potenziell ausgesetzt sein könnte. Wie ich das minimieren kann, ob es vielleicht tatsächlich das Klügste wäre zu gehen. Was mir sehr schwer fallen würde, weil viele von meinen Freundinnen und Freunden - Ukrainerinnen und Ukrainer - das eben nicht können. Die sitzen hier fest, und ich bin so privilegiert und könnte einfach gehen.
Es geht ja nicht nur um eine militärische Eskalation - wir könnten uns auch viele andere Vorfälle vorstellen. Eine militärische Eskalation in einem kleinen Bereich der Ukraine, also punktuell beispielsweise in der Ostukraine, wäre denkbar. Wir könnten aber auch über große Blackouts spekulieren, dass wir keinen Strom haben, kein Mobilfunknetz. Das sind alles Optionen, die derzeit diskutiert werden und das macht die Situation so unsicher, weil man sich auf so viele verschiedene Szenarien vorbereiten muss - und eigentlich immer wieder zu dem Schluss kommt, dass man gar nichts weiß.
Dementsprechend überlege ich, zögere die Entscheidung immer wieder heraus und habe noch keine getroffen. Heute Morgen war ich kurz davor auszureisen und hatte schon fast ein Ticket gebucht. Und dann habe ich es auch wieder gelassen.
Beobachtest du innerhalb der Ukraine eine Art Binnenmigration, weg von der ostukrainischen Grenze?
Nein, das noch nicht. Ich glaube auch nicht, dass die so schnell eintreffen wird. Ich war vor einer, anderthalb Wochen noch in der Ostukraine. Und die Menschen dort sind noch gefasster als die Menschen in Kiew, weil sie eben mit diesem Krieg, den sie jeden Tag wirklich vor ihrer Haustür haben, der jeden Tag den Alltag beeinflusst, seit acht Jahren leben. Mir hat beispielsweise eine Frau gesagt - was ich sehr interessant fand: Wenn man so nah dran ist, dann hat man das Gefühl, man könne die Situation kontrollieren, auch wenn das vielleicht nicht stimmt. Aber das gibt einem eine gewisse Ruhe.
Wenn man aber weit weg ist, so wie ich jetzt zum Beispiel in Kiew, fängt man an zu spekulieren. Man fängt an, Szenarien durchzuspielen und weiß aber einfach nichts. Dann wird man unruhig und das verunsichert. Was ich hier beobachtete, sind Leute, die sind vorbereitet. Die sind teilweise seit zwei Wochen oder mehreren Wochen vorbereitet. Manche haben so ein kleines Rucksäckchen gepackt mit den wichtigsten Sachen, Dokumenten, Bargeld. Sie wissen jetzt schon: Sollte etwas passieren, dann habe ich ein Häuschen oder Bekannte, Verwandte dort in der Westukraine. Und da fahren wir dann hin.
Jetzt aktuell ist die Situation hier wirklich noch ruhig. Die Leute sprechen über das Thema, aber es gibt keine Hamsterkäufe, keine Fluchtbewegungen. Es gibt keine augenscheinliche Panik.
Könnten sich Menschen in der Ukraine jetzt, wenn sie Angst hätten, ein Flugticket kaufen und Richtung Westeuropa fliehen?
Also rein theoretisch ginge das, sie bräuchten keinen langen Visumsprozess. Die Ukrainer haben Reisefreiheit, Visumsfreiheit in die EU. Das geht rein theoretisch. Die Frage ist natürlich, können sie sich das leisten? Und geht das praktisch? Die Menschen haben Familie, die Menschen haben Jobs, die Menschen haben Eigentum hier. Und es fällt sehr schwer, das einfach hinter sich zu lassen. Und man hofft halt auch, dass sich die Situation nach wenigen Tagen beruhigt. Also geht man erst mal vielleicht zur Oma, die eine Stadt weiter lebt. Oder man schickt seine Kinder, die man in Sicherheit bringen möchte, dorthin und bleibt selber zu Hause und passt auf die Wohnung auf. Das sind psychologische Phänomene, die ich immer wieder beobachte. Es gibt mit Sicherheit einige, die ausfliegen werden. Aber ich persönlich habe keine Person getroffen, die ernsthaft darüber nachdenkt oder sogar schon ein Ticket gebucht hat.
Vielen Dank für das Gespräch!
Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte und redigierte Fassung eines Interviews, das Naomi Noa Donath für rbb|24 geführt hat.
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