Sozialsenatorin Kippings Pläne - Mit Dialektik gegen die Obdachlosigkeit in Berlin

Die Berliner Sozialsenatorin möchte Obdachlosigkeit beenden, weicht der Frage zur Umsetzung dazu aber mit Theorie aus dem Studium aus. Doch sie will auch einen Plan fortführen, der bisher im Ansatz funktioniert hat. Von Franzsika Hoppen
Wenn man Katja Kipping (Linke) mit der Frage konfrontiert, ob sie in Berlin die Obdachlosigkeit beenden kann, sagt sie schon mal: Das sei eine "metaphysische Ebene". Und als studierte Soziologin sei sie doch "dialektisch geschult. Das heißt, dass alles im Fluss ist." Es gehe nicht darum, erklärt sie, welches Ziel realistisch sei, sondern darum, dem Ziel so nahe wie möglich zu kommen.
Gemeint ist, was im neuen rot-grün-roten Koalitionsvertrag festgehalten ist: Bis 2030 soll es keine Obdachlosigkeit in Berlin mehr geben.
In theoretischen Aussagen wie diesen merkt man Katja Kipping die Bundespolitikerin noch an. Nun sind auf der Lokalebene aber praktische Lösungen gefragt. Was also könnte es heißen, dem Ziel "nahe zu kommen"?
Wohnungslos ist nicht gleich obdachlos
Taylan Kurt, Sprecher für Soziales der Berliner Grünen-Fraktion, hakte vor Kurzem in zwei parlamentarischen Anfragen nach: Wer sind die Menschen ohne Bleibe in Berlin, und wie wird ihnen geholfen?
Wichtig ist dabei eine Unterscheidung: Wohnungslose Menschen haben zwar keine eigene Unterkunft, können aber bei Freunden oder Familie übernachten - oder in kommunalen Einrichtungen, die extra dafür bereitgestellt werden.
Erfasst sind in Berlin mehr als 31.000 Wohnungslose. Die meisten bleiben über drei Jahre hinweg und länger ohne eigene vier Wände. Die Dunkelziffer wird aber auf bis zu 50.000 Personen geschätzt. "Wohnungslosigkeit ist ein riesiges Problem", sagt Taylan Kurt. Auch, weil sie im Alltag kaum sichtbar ist. "Diese Menschen gehen ganz normal zur Arbeit und zur Schule. Nur anschließend nicht in ihre Wohnung sondern in eine Wohnungslosenunterkunft. Wir dürfen diese Menschen nicht aus den Augen verlieren."
Obdachlosen hingegen bleibt nur die Straße. Übernachten können sie nur in Notunterkünften, die jetzt im Winter vor allem von der Kältehilfe bereitgestellt werden. Sie haben keine eigene Bleibe und können auch nicht bei Bekannten unterkommen. Wie viele Obdachlose in Berlin leben, weiß niemand. Freiwillige zählten beim Modellprojekt "Nacht der Solidarität" Anfang 2020 knapp 2.000 Menschen. Schätzungen gehen von bis zu 10.000 Obdachlosen in Berlin aus.
Um ein Problem zu bekämpfen, müsse erst einmal das Ausmaß klar sein, sagt Taylan Kurt. Er fordert vom Senat, Tatsachen zu schaffen: Das Zählen Obdachloser müsse ausgeweitet werden. Zudem sollen die Freiwilligen nach den individuellen Bedürfnissen der Menschen fragen. Frauen zum Beispiel, die etwa ein Fünftel der Berliner Obdachlosen ausmachen, bräuchten ganz gezielt mehr Schutzräume, Suchtkranke etwa eine Bleibe, in der sie unter Aufsicht Alkohol konsumieren können.
Senat setzt auf "Housing First"
Wer in Berlin wohnungslos ist, der kann sich beim Amt für Soziales im Bezirk melden, das dann einen freien Unterkunftsplatz zuweist. So regelt es das Gesetz. Der Staat ist verpflichtet, zu helfen. Außerdem unterstützt die Berliner Sozialverwaltung bislang 25 Einrichtungen und Dienste der Berliner Wohnungslosenhilfe: Beratungsstellen, Straßensozialarbeit, medizinische Versorgung etc.
Große Hoffnungen zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit setzt der Senat auf das Modellprojekt "Housing First". Es sollte innerhalb von drei Jahren mindestens 40 obdachlose Menschen in eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag vermitteln. Unterschrieben haben sogar 43 neue Mieter - in allen Berliner Bezirken. Sozialsenatorin Kipping sagt mit Nachdruck: "Alle im Senat wollen, dass das Projekt fortgeführt wird." Demnach gebe es auch eine Entscheidung für eine Finanzierungszusage von 1,3 Millionen Euro.
Problem sei eher die Betreuung von Obdachlosen sicherzustellen
Eines aber überrascht: "Die Akquise von Wohnungen ist nicht unsere Hauptsorge", sagt Böwe von Housing First. Berliner Wohnungsnot hin oder her: Das Modellprojekt sei gut vernetzt in der Stadt, arbeite mit allen städtischen Wohnungsbaugenossenschaften zusammen, mit Genossenschaften und Privat-Vermietern und börsenorientierten Unternehmen. "Für den letzten Klienten hatten wir gleich sechs Wohnungen im Angebot", sagt Böwe. Das eigentliche Problem sei eher, die Betreuung der Obdachlosen sicherzustellen.
Nach Jahren auf der Straße wüssten viele der frischgebackenen Mieter nicht, wie sie einen Personalausweis beantragen oder die Krankenversicherung abschließen sollen. Dazu kommen teils schwere psychische Probleme. Um hier besser zu helfen, wünscht sich Böwe deutlich mehr Personal. Bislang habe Housing First nur eine Psychiaterin, drei Sozialarbeiter und drei Sozialbetreuer – das reiche eigentlich nicht.
Kipping schlägt vor, Zwangsräumungen möglichst zu verhindern
Tatsächlich kostet Wohnungs- und Obdachlosigkeit die Stadt viel Geld. Zuletzt schlug Kipping deswegen vor, dass Sozialbehörden auch dann die Kosten für eine Wohnung übernehmen, wenn sie eigentlich zu teuer ist. Denn selbst das wäre noch günstiger als die Tagessätze der Notunterbringungen. Noch ist diese "Erprobungsklausel" nicht beschlussreif– gehört aber zum 100-Tage-Programm des Senats. Außerdem müsse man Änderungen bei den bundesweiten Regelungen zu den Kosten der Unterkünfte abwarten, so Kipping. Das könne Einfluss auf das Regelwerk Berlins haben.
Quoten für den Zugang zum Wohnungsmarkt sind ein weiterer Schritt, um die Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Dafür habe sie bereits Akteure wie die Genossenschaften und den Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen sensibilisiert, sagt Kipping.
Am besten aber wäre es, Menschen gar nicht erst in die Obdachlosigkeit rutschen zu lassen, da sind sich Kipping und Housing First Pressesprecher Böwe einig. Die Sozialsenatorin schlägt dazu etwa vor, Zwangsräumungen möglichst zu verhindern. Bei Verfahren wegen Mietschulden könnten entsprechende Fachstellen einbezogen werden, noch bevor die Wohnungslosigkeit entsteht. Fraglich ist jedoch, ob die Bezirke dafür personell gut genug aufgestellt sind.