An der polnisch-ukrainischen Grenze - "Ich heiße Anton. Ich ziehe in den Krieg."

Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ist an der polnisch-ukrainischen Grenze deutlich zu spüren. Am Grenzübergang Medyka kommen täglich tausende Menschen an, die vor Putins Krieg fliehen. Protokoll eines rbb|24-Reporters vom Ostrand der EU. Von Tim Schwiesau
Sonntag, 00:02 Uhr. Eine Tankstelle hinter Krakau. Noch 350 Kilometer bis zur Grenze. Eine lange Schlange an der Tanke, es geht kaum weiter. "Ist der Sprit hier schon alle?" Das Gerücht, dass das Benzin ausgeht, macht die Runde. Während die Schlange wartet, kommt ein Freiwilligen-Team, das an die Grenze will, mit Blaulicht von hinten angerauscht und reiht sich ein. Piotr aus Wroclaw will helfen, er ist nach eigenen Angaben heute aus Paris angereist.

"Ich hoffe, dass wir auf der ukrainischen Seite helfen können. Auf der polnischen Seite ist es bestimmt besser. Wir haben Spielzeug und Essen für die Kinder." Warum macht ihr das? "Wir sind Ärzte in einer Privatklinik. Es ist Wochenende, wir haben Zeit. Es ist traurig, deswegen helfen wir. Wir glauben, dass die Ukraine in der gleichen Lage ist wie Polen 1939, als Deutschland Polen überfallen hat."
00:30 Uhr: Es gab ein Problem mit der Tankstellen-Kasse. Jetzt geht sie wieder. Es kann weitergehen.
Medyka ist der aktivste Grenzübergang
Sonntag, 11:45 Uhr. Kurz vor dem Grenzübergang liegt Przemysl. Etwas mehr als 60.000 Menschen leben in der Stadt. Przemysl ist kleiner als Cottbus. Der Ort steht plötzlich im Mittelpunkt der weltweiten Berichterstattung.
Seit Donnerstag sind hier nationale und internationale Reporterinnen und Reporter unterwegs. Hier kommen tausende Kriegsflüchtende an. Per Zug, oder weil ein Bus sie von der Grenze in die Innenstadt gebracht hat. Fast zehn Grenzübergänge zwischen Polen und der Ukraine gibt es, dieser hier ist einer der größten und vielleicht auch der aktivste derzeit.

Vor allem Mütter mit Kindern kommen rüber
Circa zwei Kilometer noch bis zum Ende der EU. 80 Kilometer hinter der Grenze liegt Lviv, die Hauptstadt der Westukraine. Dort in der Nähe sollen angeblich russische Truppen gelandet sein, Gerüchte darüber machen die Runde. An den Straßenrändern stehen Autos, Rettungszelte, Berge von Kleidung, Tische mit Essen und Getränken. Helfer:innen wuseln herum.
Kurz vor der Grenze lässt die Polizei wohl nur noch Ausreisende, Presse, Helferinnen und Helfer durch. Der Rest muss wenden.
Direkt am Grenzübergang ist es erstaunlich ruhig, ab und zu kommt ein Krankenwagen, ein Bus, ein Auto. Es gibt auch Fahrzeuge Richtung Ukraine, rüber ins Kriegsgebiet. Bei vier Grad stehen Presse und Menschen, die helfen wollen oder auf Verwandte und Bekannte warten. Und jene, die mit Taxifahrten auf ein kleines Geschäft hoffen.
Allein in den letzten 24 Stunden haben rund 90.000 Menschen die Grenzübergänge zwischen Polen und der Ukraine überquert. Heute ist es ruhiger als gestern, sagen sie hier. Alle zwei Minuten kommt an der Hauptschranke eine Familie zu Fuß an, oft Mütter mit Kindern oder Neugeborenen. Ukrainische Männer zwischen 18 und 60 müssen im Land bleiben, um zu kämpfen. Über die Grenze kommen aber auch Menschen aus Afrika, Libanon, Afghanistan.

So wie Sahel, Anfang 20, aus Afghanistan.
Er ist vor den Taliban in die Ukraine geflohen. Dann kamen die Russen. Er ist mit Schwestern, Bruder und der alten Mutter unterwegs. Nach 24 Stunden Fußmarsch am Stück hat er überall Schmerzen, jetzt freut er sich aufs Ausruhen. Und dann? "Maybe in your country, Germany." Dort will er lernen. Vielleicht mal "Businessman" werden.

1.200 Kilometer zurück nach Gießen
Grenzübergang Medyka, zehn Minuten später
Eine junge Frau mit Kinderwagen kommt und fällt zwei Männern um den Hals. Sie weint."Hello, can we ask some questions?", frage ich in die Gruppe. "Wir können direkt auch Deutsch reden", sagt Benito aus Gießen und lacht.
Die junge Frau – Olla – ist die Nichte der Ehefrau von Benito. "War ein harter Tag, wir sind aber glücklich, dass sie jetzt da ist", sagt Benito. Die Mutter fehle noch, sie wurden an der Grenze getrennt. "Wir haben alles versucht, um wenigstens die Frauen rauszubringen. Das Baby ist da, aber der Mann musste drüben bleiben." Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird. "Sie wollen ja auch wieder zurück, gar nicht in Deutschland bleiben. Sie haben bei Lwiw ihr Hab und Gut."
Jetzt geht es mit der kleinen Familie erstmal 1.200 Kilometer im Auto nach Gießen.

Anton aus Paris hat es eilig
Rund 200 Meter ums Eck, vorbei an wartenden Leuten, Autoreifen, Müll, matschiger Erde, einem Medizinzelt und zahlreichen Tischen mit Kleidung, Getränken, Suppen, Süßigkeiten, gibt es noch einen kleinen Grenzübergang. Hier ist es etwas ruhiger als an der Hauptschranke.
Links vom Zaun kommen Menschen kommen aus der Ukraine nach Polen. Rechts vom Zaun gehen die Leute den umgekehrten Weg, meistens Männer.
"Hey, wie heißt du?"
"Ich heiße Anton."
"Was machst du hier?"
"Ich ziehe in den Krieg."
"Warum ziehst du in den Krieg?"
"Weil es mein Land ist und ich Offizier der ukrainischen Armee bin. Ich muss hier sein."
Anton, gefühlt Anfang 30, kommt gerade aus Paris, ist drei Tage gefahren. Er hat Familie in der Ukraine, die in Kiew lebt. Es gehe ihnen gut, er hat heute mit ihnen telefoniert.
"Hast du Angst, getötet zu werden?" "Ja, aber es ist nicht meine Entscheidung. Es ist Krieg, Menschen sterben dabei. Die Situation ist scheiße."
Mit Rollkoffer, Basecap und Sonnenbrille zieht er wie ein Tourist weiter. In den Krieg.

Der kleine Grenzübergang hat den Charme eines Supermarkt-Parkplatzes. "All Passports or EU" steht auf einem fensterlosen Backsteingebäude. Leute kommen durch eine Tür oder gehen rein. Geht die eine Tür auf, kann man die Kriegsflüchtenden aus 80 Metern ankommen sehen.
Sie laufen langsam, haben oft schweres Gepäck dabei. Vielen sieht man die Strapazen der letzten Tage an. Fragt man sie, wie lange sie an der Grenze standen, gibt es keine genauen Zeitangaben. Es war lange, sehr lange in der Kälte mit Kindern und Gepäck. Manche standen wohl bis zu 24 Stunden.

Anastasia, Mutter dreier Kinder, das jüngste neun Monate alt, sagt, dass sie drei Tage bis hierher gebraucht hat. "Mein Mann ist im Zentrum von Kiew. Er ist im Krieg. Im bin schockiert. Punkt." Das kleinste Kind hat sie sich auf den Bauch geschnallt, es schläft. Die anderen beiden Kinder halten Händchen.
Wie sieht die Zukunft aus? "Ich glaube, dass die Ukraine gewinnen wird. Wir hoffen, dass wir bald wieder nach Hause kommen", sagt sie mit ernstem, harten Gesicht. Jetzt wollen sie zu viert nach Hannover. An der Grenze, auf ukrainischer Seite, herrsche totales Chaos. Was sagt sie ihren Kindern, wie erklärt sie ihnen das hier? "Bleibt ruhig. Alles wird gut. Es ist jetzt nur kurz ungewöhnlich. Nur die Sechsjährige weiß, dass jetzt Krieg in der Ukraine ist."

Matthew - der Helfer, der nicht kämpfen darf
Mitten im Schlamm zwischen den beiden Grenzübergängen steht der hochgewachsene Matthew hinter einem Tisch voller Kekse, Windeln, Tee und Brötchen. Matthew ist 22 und Ukrainer, seit 2016 lebt er in Polen. Er ist freiwilliger Helfer. "Ich will zurück, in den Krieg, aber meine Familie sagt, dass ich hier helfen soll. Es sei zu gefährlich. Also helfe ich hier." Die Hälfte seiner Familie ist derzeit in Kiew. "Sie sind richtige Patrioten."

Die internationale Presse schaltet aus Przemysl
Am Bahnhof von Przemysl
Am Bahnhofsgebäude haben TV-Stationen ihr Equipment aufgebaut, CNN ist da, RTL, diverse polnische Sender. Im Fernsehen sieht es sehr hektisch aus. Doch eigentlich ist es recht ruhig. In der kleinen Haupthalle ist Gewusel, in den Nebengängen sitzen viele erschöpfte Menschen. Helfer:innen tragen Kleidung, Getränke und Speisen durch die Gegend. Es gibt ein großes Zimmer, in dem Toilettenpapier, Wasser und andere Dinge gestapelt werden. Hier darf nicht mal die Presse rein.
Mitten in der Haupthalle steht Stanislaw. 1,90 Meter hoch, ernstes Gesicht. "To Estonia" steht auf seinem selbstgemalten Pappschild. Dort wohnt der gebürtige Ukrainer seit über zwei Jahren. Sein Chef sei "reich" und habe gesagt, dass er für Kriegsflüchtende sorgen werde, wenn er welche mitbringe. Deswegen wartet Stanislaw darauf, dass jemand auf sein Angebot eingeht. Eine Stunde später steht er auf der anderen Seite des Bahnhofs. Vielleicht hat er hier mehr Glück.

Der Zug nach Berlin ist fast leer
Montagmorgen, Przemysl
Einmal am Tag, um 7:05 Uhr, fährt ein Zug planmäßig direkt nach Berlin-Ostbahnhof. 10 Stunden dauert die Reise. Es gibt auch Routen mit 4 Mal Umsteigen, das dauert dann aber 14 bis 15 Stunden. Am Sonntag teilt die Bahn mit, mehr Züge einsetzen zu wollen und Kriegsflüchtende kostenlos zu transportieren. Wie voll wird es wohl sein? Gibt es Bilder wie vom Lviver Bahnhof, wo Menschen die Bahnsteige überfüllen?
Gleis 2. Es schneit. Unter null Grad. Der EC 56, er ist fast leer. Dreiviertel aller Plätze bleiben frei. Der Zug fährt pünktlich ab.
In den schmalen Gängen des Bahnhofs liegen schlafende Menschen. Zwischen ihnen läuft Wladmir umher, er hat eine kleine Deutschlandfahne in der Hand. Wladmir wurde in Lviv geboren und wohnt seit vielen Jahren in Hannover. Er hat zwei Busse besorgt, um Menschen hier rauszufahren. Gegen 10 Uhr geht der nächste, in der Nähe sei eine Turnhalle, in der Kriegsflüchtlinge versorgt werden.

Die Kinder, die Kälte: Chad aus Alaska weint
Turnhalle der Grundschule No. 14, 8:30 Uhr
Vor der Turnhalle holt ein Mann Wasserflaschen aus einem Mietwagen mit deutschem Kennzeichen. Er sieht aus wie ein Surfer, die langen dunkelblonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden, dichter Bart. "Hey, I am Chad." Chad kommt aus Alaska, wohnt jetzt aber in Berlin und hat bei Facebook gesehen, dass Fahrer ins Grenzgebiet gesucht werden. Also rein ins Auto.
Beim Betreten der Turnhalle kommen sofort Erinnerungen an 2015/2016 wieder hoch. 250 Betten auf dem typischen Sporthallen-Parkett, zwei Handballtore, Basketballkörbe. Kinder flitzen durch die Reihen, die Eltern sitzen auf Feldbetten. Am Ende der Halle gibt es Tische, an den Familien Suppe essen.
Chad erzählt in gebrochenem Deutsch, warum er hier ist. Er kämpft immer wieder mit den Tränen. "Die Tochter der Nachbarn war in Lviv, als der Krieg losging. Es ist scheiße hier. Es ist kalt. Die Kinder, Mädchen, sie sind auf der Straße. Schnee. Dieser Krieg ist scheiße, was Putin macht, ist scheiße."

Parkplatz am Supermarkt, 10:30 Uhr
Vor der Kaufhalle stehen 50 Menschen und warten in der Eiseskälte auf den Bus, den Wladmir organisiert hat. Seine Deutschlandfahne hat er noch am Bahnhof verschenkt. Der weiße Reisebus kommt. Türen auf. Koffer rein. Menschen rennen die Treppen hoch. Nach drei Minuten ist Abfahrt.
Dann geht’s los nach Hannover. In ein neues Leben.

Sendung: Brandenburg aktuell, 28.02.2022, 19:30 Uhr