Großinvestitionen für den Klimaschutz - So soll der Öffentliche Nahverkehr bis 2030 ausgebaut werden

Das Auto ist immer noch das Haupt-Fortbewegungsmittel in Deutschland. Die Verkehrsminister der Länder wollen das ändern, um die Klimaschutzziele einzuhalten. Der öffentliche Nahverkehr spielt dabei eine besondere Rolle. Vor allem eine teure. Von Sylvia Tiegs
Deutschlands öffentliche Verkehrsbetriebe organisieren im Jahr buchstäblich Milliarden Fahrten mit Bussen, Bahnen und Regionalzügen. Allein in Berlin und Brandenburg stiegen 2019, also vor Corona, täglich mehr als vier Millionen Menschen in den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Dieser Rekord an Fahrgästen war in der Pandemie nicht mehr zu halten. Viele Arbeitnehmer sitzen bis heute im Homeoffice, Menschen meiden die "Öffis" aus Angst vor Ansteckung - und fahren weiter oder wieder Auto.
Besseres Angebot im öffentlichen Nahverkehr notwendig
Die Zahl der ÖPNV-Nutzer aber muss wieder steigen – und zwar gewaltig, sagt Jan Schilling. Er ist Geschäftsführer für Öffentlichen Nahverkehr beim Verband deutscher Verkehrsunternehmen, VDV: "Es ist schade, dass wir bei der Verkehrswende immer über Wien, Stockholm, Kopenhagen, Paris sprechen. Aber eigentlich nicht über deutsche Städte. Wenn wir die Klimaschutzziele ernst nehmen, dann müssen wir jetzt ins Machen kommen."
Unter "ins Machen kommen" versteht man beim Verband deutscher Verkehrsunternehmen ein erheblich besseres Angebot: Mehr Fahrzeuge auf Straßen und Schiene, mehr Halte, engere Takte. "Wenn wir wollen, dass Leute im ÖPNV mitfahren, dann wird das nur darüber gelingen, wenn wir ihr Mobilitätsbedürfnis gut befriedigen können", meint Jan Schilling. Niemand steige freiwillig vom Auto auf die Bahn um, wenn er im Winter eine Viertelstunde auf dem Bahnhof warte oder die Anschlüsse zum Bus nicht stimmten. "Ich will ja nicht von Bahnhof zu Bahnhof. Sondern ich will von zu Hause an meinen Arbeitsplatz, und auch sicher wieder zurück – und zwar nach meinen Bedürfnissen: dass ich mein Kita-Kind abholen oder mit Kollegen noch was trinken gehen kann. Dafür brauchen wir ein qualitativ hohes Angebot."
Dieser Einschätzung wird wohl niemand widersprechen unter den mehr als 630 Mitgliedern im Verband deutscher Verkehrsunternehmen – von den kleinen Harzer Schmalspurbahnen bis hin zum großen Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg. Beim VBB ist man schon mitten in den Planungen für mehr ÖPNV.
Mehr Schienenverkehr bis 2030 in der Hauptstadtregion geplant
Bis zum Jahr 2030 werden in Berlin und Brandenburg 380.000 Menschen täglich pendeln, schätzt die Bundesagentur für Arbeit. Das wären 70.000 mehr als heute. Der Verkehrsverbund plant deshalb vor allem im regionalen Zugverkehr, seine Kunden bald schneller und öfter zu transportieren. Gemeinsam mit den beiden Landesregierungen und der Deutschen Bahn wurde das Ausbauprojekt "i2030" aufgelegt: ein "gigantisches Investitionsprogramm", so der VBB.
Tatsächlich sollen in den kommenden acht Jahren fast 100 regionale Bahnhöfe neu-, um- und ausgebaut oder reaktiviert werden. Für die S-Bahnlinien 1, 2, 5 und 25 ist ein zehn-Minuten-Takt geplant, der Regionalexpress RE1 zwischen Brandenburg (Havel) und Frankfurt (Oder) soll alle 20 Minuten kommen. Neuruppin und Cottbus würden dann alle 30 Minuten angesteuert. Kostenpunkt für alles zusammen: fünf bis sechs Milliarden Euro.
ÖPNV ist derzeit ein teures Zuschussgeschäft
Angesichts solcher Summen mag man sich fragen: Wo fließt denn all dieses Geld bloß hin? Man fängt schließlich nicht bei null an; Schienen und Züge sind ja grundsätzlich vorhanden. Die Antwort ist sehr grundsätzlich, sagt Jan Schilling vom Verband deutscher Verkehrsunternehmen: "ÖPNV ist ein sehr personalintensives Geschäft. Steigende Löhne schlagen sich auf der Kostenseite nieder. Steigende Energiepreise spielen natürlich auch eine Rolle. Und wenn man mehr Angebote umsetzen möchte, braucht man noch mehr Personal, mehr Energie, aber auch, vor allem, Fahrzeuge und Infrastruktur." All das will finanziert werden. Die Fahrpreise allerdings spielen die Kosten nur zur Hälfte wieder rein.
So hatte der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg 2019 1,5 Milliarden Euro Einnahmen. Das entsprach aber nur 47 Prozent der Ausgaben. Der Rest, 53 Prozent, waren staatliche Zuschüsse. Im deutschen ÖPNV ist das eine übliche Mischkalkulation. Andere europäische Länder lassen sich ihren Nahverkehr sogar noch viel mehr kosten. Der Bund gibt an sich schon sehr viel Geld für den öffentlichen Nahverkehr hinzu: jedes Jahr bekommen die 16 Bundesländer rund 9 Milliarden Euro, mit einer jährlich verabredeten Steigerung von 1,8 Prozent. Hinzu kommen die sogenannten "Regionalisierungsmittel", sie sind allein für den Schienenverkehr. Allein in Jahr 2021 waren das insgesamt 10 Milliarden Euro.
Der Bund muss wohl die Taschen weiter auf machen
Dennoch werden die Verkehrsminister der Länder für den Ausbau ihres Schienenangebots zusätzliches Geld vom Bund verlangen, das haben sie schon vor Wochen angekündigt. Beim Verband deutscher Verkehrsunternehmen heißt es dazu: Deutschland müsse in der Tat die Taschen weiter aufmachen. ÖPNV-Geschäftsführer Jan Schilling rechnet vor: "Wir geben heute insgesamt etwa 120 Euro pro Einwohner und Jahr für den ÖPNV aus. Die Schweiz gibt allein 400 Euro pro Einwohner nur für die Schieneninfrastruktur im Eisenbahnverkehr aus."
Deutschland also ist zurückgefallen, meint der Fachmann vom VDV. Ohne mehr Geld und Anstrengungen könne der deutsche ÖPNV aber nicht mehr Fahrgäste anlocken – und Deutschland insgesamt seine Klimaschutzziele nicht erfüllen.
Sendung: Inforadio, 23.02.2022, 6 Uhr