Interview | Kriegsflüchtlinge und Menschenhandel - "Es besteht die reale Gefahr, dass Kinder und Frauen in den Sexhandel geraten"

Fr 18.03.22 | 07:34 Uhr | Von Jan Wiese
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Berlin, ukrainische Flüchtlinge kommen am Berliner Hauptbahnhof an. (Quelle: SULUPRESS.DE/Vladimir Menck)
Bild: SULUPRESS.DE/Vladimir Menck

Seit Tagen gibt es Hinweise, dass Kriminelle gezielt geflüchtete ukrainische Frauen und Kinder ansprechen. Es besteht die Gefahr, dass sie Opfer von Menschenhändlern werden - und das europaweit, warnt die Kinderrechts-Aktivistin Eirliani Abdul Rahman.

rbb|24: Frau Rahman, Sie arbeiten mit vielen Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt bei der Bekämpfung von Menschenhandel zusammen, auch in Europa. Welches Bild ergibt sich für Sie angesichts der großen Anzahl von Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine fliehen?

Eirliani Abdul Rahman: Ich habe seit Kriegsbeginn mit vielen Kollegen und Freunden gesprochen, die im Kampf gegen Menschenhandel aktiv sind. Wir alle befürchten, dass Menschenhandel eine große Gefahr für die Geflüchteten wird, gerade weil so viele Frauen und Kinder unter ihnen sind. Vor einigen Tagen, am 8. März, hat das internationale Kinderhilfswerk World Vision eine Studie zu Menschenhandel veröffentlicht, zu Rumänien, ganz in der Nähe der ukrainischen Grenze. Vom Ergebnis war ich sehr niedergeschlagen: 97 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen Fälle von Menschenhandel bekannt sind. Die meisten Fälle betrafen dabei Prostitution, über 70 Prozent, gefolgt von Kidnapping und dem Kauf und Verkauf von Menschen.

zur person

  • Eirliani Abdul Rahman

Konnten Sie oder ihre Kolleg*innen bereits konkrete Fälle nachweisen, das Kriegsflüchtlinge von Menschenhändlern ausgebeutet werden?

Noch nicht, das können wir bisher nur vermuten. Wir kennen alle die Berichte über dubiose Männer, die Plakate am Berliner Hauptbahnhof hochhalten. Wir wissen auch, dass polnische Zivilpolizisten in den Ankunftszentren patrouillieren und dort mit Freiwilligen sprechen, um herauszufinden, ob diese tatsächlich gute Absichten verfolgen. Die World Vision-Studie ist da bisher die konkreteste Information, und verstörend genug.

Was ist generell über den Menschenhandel aus der Ukraine heraus bekannt? Entsteht hier gerade etwas Neues oder gibt es bereits bestehende Strukturen, auf die Kriminelle jetzt bauen können?

Bereits vor dem Krieg war die Ukraine ein Herkunftsland für Opfer von Menschenhandel. Über 260.000 Ukrainerinnen und Ukrainer wurden in den vergangenen 30 Jahren nach Schätzungen der Vereinten Nationen Opfer von Menschenhandel. Allein das Anti-Menschenhandels-Programm der UN-Migrationsorganisation hat in den vergangenen 20 Jahren über 16.000 ukrainischen Menschenhandelsopfern geholfen. Das Phänomen gibt also schon lange, mit den entsprechenden Strukturen, die das möglich machen.

Der Krieg führt jetzt dazu, dass die Menschenhändler Zugang zu viel mehr möglichen Opfern bekommen. 2,8 Millionen Ukrainer haben bereits das Land verlassen, darunter eine Million Kinder.

Welchen möglichen Gefahren sind die geflüchteten Frauen und Kinder ausgesetzt, wenn sie herkommen?

Da Männer zwischen 18 und 60 Jahren nicht ausreisen dürfen, kommen die meisten Frauen und Kinder allein hier an. Sie verstehen oft die Sprache nicht, haben weder Familie noch Freunde hier. Viele von ihnen sind traumatisiert von der Brutalität des Krieges: zerstörte Infrastruktur, zerstörte Waisenhäuser, zerbombte Krankenhäuser und Schulen. Und dazu kommen die Herausforderungen als Flüchtling. Das kann dazu führen, dass sie schnell ein Angebot von jemanden annehmen, der irgendwo mit einem Schild steht und freie Übernachtungen anbietet. Leider kann derjenige ein Menschenhändler sein.

Vieles hängt derzeit an der mangelnden Koordination der Hilfsangebote. Alle Regierungen in Europa bemühen sich zwar um bessere Informationen für die Geflüchteten. Das wird mit der Zeit besser. Aber die Hilfsinitiativen waren gerade zu Beginn sehr chaotisch, und die Menschenhändler können ganz einfach in die Masse der hilfsbereiten Menschen eintauchen, wenn es keinerlei Registrierungs- und Überprüfungsverfahren für die Helferinnen und Helfer gibt.

Was droht den Geflüchteten, falls sie Menschenhändlern in die Falle gehen?

Üblicherweise werden gerade Frauen zur Sexarbeit gezwungen. Das zeigt die Erfahrung ganz deutlich. Manchmal landen sie auch in der Zwangsarbeit, müssen also gegen ihren Willen schlechtbezahlte Jobs machen. Wir wissen natürlich noch nicht, was mit diesem Exodus von Menschen aus der Ukraine passieren wird. Aber es besteht die sehr reale Gefahr, dass diese Frauen und Kinder in den Sexhandel geraten.

In Berlin warnt die Polizei die Geflüchteten über Social Media vor dubiosen Übernachtungsangeboten, auch in ukrainischer und russischer Sprache. Was können und sollten Behörden und Regierungen tun, um zu verhindern, das Flüchtlinge Opfer von Menschenhandel werden?

Es braucht in jedem Fall sehr strenge Registrierungs- und Überprüfungsprozesse, für die Geflüchteten, sofern das möglich ist, und vor allem für die freiwilligen Helfer. Das ist nicht immer einfach, muss aber gemacht werden: die Ausweisnummer, das Kennzeichen ihrer Autos oder ähnliches, damit man sie nachverfolgen kann. Das würde Menschen mit schlechten Absichten automatisch abhalten.

INFOBOX

Außerdem müssen die europäischen Regierungen ihre bereits existierenden Anti-Menschenhandelsprogramme verstärken und auf diese Notsituation anpassen. Und wichtig wären härtere Strafen für Menschenhändler. Polen hat schon auf die Situation reagiert und am 8. März die Mindeststrafen für Menschenhändler von drei auf zehn Jahre erhöht, und die Höchststraße für Sexhandel mit Kindern von 10 auf 25 Jahre. Das wird sicher einige Menschenhändler davon abhalten, Frauen und Kinder anzusprechen.

Wenn sich jemand bereits in den Fängen eines Menschenhändlers befindet: Wie könnte er oder sie da herauskommen? Und wie könnten unbeteiligte Menschen dabei helfen?

Das ist extrem schwer. Denn normalerweise gehen Menschenhändler so vor, dass sie ihren Opfern den Reisepass oder Ausweis wegnehmen, und auch deren Mobiltelefon. Es gibt gewisse Merkmale, an denen man einige Betroffene erkennen kann: Sie sind oft nervös, wissen gar nicht, wo sie sind, und ohne Ausweis eben. Wenn man ihnen eine Frage stellt, antworten sie mit auswendig gelernten Sätzen, die ihnen die Menschenhändler diktiert haben. Und meistens werden sie bewacht, von jemanden, der an der Ecke steht, zum Beispiel. Wenn einem so etwas auffällt, ist es das Beste, sofort die Polizei zu informieren.

Liebe Frau Rahman, danke für das Gespräch!

Das Interview führte Jan Wiese, rbb24-Recherche.

Sendung: Abendschau, 17.03.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Jan Wiese

15 Kommentare

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  1. 15.

    Deine Ansicht in Ehren . Aber mein Sohn sagt zum Beispiel: zuerst wir Männer. Unsere Frauen und Kinder in Sicherheit. Ist das etwa falsches Denken heutzutage? Was hat das Kind davon wenn beide Elternteile plötzlich weg sind. Hoffen wir doch einfach das es wenig Kriegswitwen und -waisen auf beiden Seiten gibt .

  2. 14.

    Danke für Deine Info. Nein. Ich bin nicht H artz IV . Aber trotzdem nicht wohlhabend. Ich spreche weder russisch noch ukrainisch .

  3. 13.

    1. In Deutschland ist die Wehrpflicht ausgesetzt.
    2. Sorry, mein Wertebild ist ein anderes - gleichberechtigter, im Positiven wie im Negativen. Im Falle eines so traurigen Angriffs wie er grad auf die Ukraine stattfindet, müssten alle mit verteidigen, die nicht unmittelbar schutzbedürftig sind wie Kinder, Alte, Kranke usw. Im Moment werden aber Frauen als per se schutzbedürftig angesehen. Wir "weichen Frauen" dürfen gehen, die "starken Männer" müssen bleiben. Ich wünsche einfach niemandem an einem Krieg teilnehmen zu MÜSSEN.
    Ich hoffe, es gibt bald Frieden und ich hoffe auch, alle Geflüchteten kommen in Sicherheit.

  4. 12.

    Es geht ja nicht nur ums 'Schießen'. Im Falle eines Angriffs muss szgn. an allen Fronten mobil gemacht werden, und selbstverständlich würden auch Frauen dabei eine sehr wichtige Rolle spielen.
    Es herrscht in DE zwar keine Wehrpflicht für Frauen, aber eine freiwillige Verpflichtung zur Verteidigung des Landes ist natürlich vorgesehen und auch erwünscht.

  5. 11.

    Erwachsene Frauen können genauso gut oder schlecht (zur Landesverteidigung) schießen wie Männer, möchte ich meinen.

  6. 10.

    Ich hinterfrage Aussagen und versuche sie in einen richtigen Kontext zu stellen.

    Das Problem ist bekannt trotzdem sollte man Quellen infrage stellen können und auch infrage stellen ob man solche Kinderhilfswerke mit Spenden unterstützt oder lieber andere auswählt. Übrigends ist auch die Arche eher evangelikal als evangelisch.

    Das nicht jeder der für so eine Organisation arbeitet fundamentalistisch sein muss ist auch bekannt. Und auch das es regionale Unterschiede gibt.



  7. 9.

    Jürgen, wenn Sie Flüchtlinge aufnehmen, bedeutet das ggf für einen langen Zeitraum. Falls Sie Leistungen nach dem SGB II beziehen, bilden Sie eine BG.

    Viele Bürger machen sich kein Bild, was es bedeutet jemanden für lange aufzunehmen und ggf auch zu ernähren ect

  8. 8.

    Dazu wird dieser Jörg keinen A.... in der Hose haben um auf unsere Fragen und Einwände zu antworten. Wenn ich wüsste wie dann würde ich auch Leuten aus der Region helfen und ein Dach über den Kopf geben. Bis sie sicher und vernünftig untergebracht sind. Viel habe ich nicht zu bieten. Kein Luxus. Ich würde mich aber auch vorab von unseren Behörden registrieren lassen.

  9. 7.

    Zitat: "Gibt es auch mal einen Bericht, dass Männer zw. 18 und 60 nicht aus der Ukraine ausreisen dürfen? Ich finde das jedenfalls ziemlich krass. Es ist ein Kriegsgebiet, es herrscht Lebensgefahr und sie MÜSSEN bleiben!? Einerseits verstehe ich es, andererseits widerspricht es meinen Werten."

    Das wäre im Falle eines Angriffs auf Deutschland oder eines Nato Partners nicht anders, Cilia. Dann würden auch hier alle Wehrpflichtigen ab 18 Jahren und theoretisch bis zum vollendeten 60sten Lebensjahr einberufen. Sicher würde man nicht jedem eine Waffe in die Hand drücken und an die Front schicken; aber es gilt doch eine massenhafte Flucht zu verhindern, die das Land und auch die Nachbarn ins absolute Chaos stürzen würde. Man kann ja nicht einfach dem Angreifer "die Schlüssel übergeben" und sich unterwerfen.

  10. 6.

    Ja und weiter? Jetzt bin ich neugierig.
    Ich fand den Bericht interessant und alarmierend und erschreckend zugleich.

  11. 5.

    @ Jörg, mit dem Begriff 'fundamentalistisch' sollten sie vorsichtig sein. World Vision Deutschland (WVD) nicht verwechseln mit World Vision Vereinigte Staaten (WV US).

  12. 2.

    Hoffen wir, dass Problem wird stark eingedämmt und Menschenhandel & Co. trifft möglichst niemanden vor allem nicht in der Fluchtsitutation. Ich denke Aufklärung und Sensibilisierung für die Problematik ist neben der Polizeiarbeit das Wichtigste.

    Gibt es auch mal einen Bericht, dass Männer zw. 18 und 60 nicht aus der Ukraine ausreisen dürfen? Ich finde das jedenfalls ziemlich krass. Es ist ein Kriegsgebiet, es herrscht Lebensgefahr und sie MÜSSEN bleiben!? Einerseits verstehe ich es, andererseits widerspricht es meinen Werten. Übrigens, weil hier von Traumata gesprochen wird: auch diese Männer werden hochtraumatisiert sein. Bitte an alle Menschen denken und allen jetzt und später helfen, die unter diesem furchtbaren Angriffskrieg leiden.

  13. 1.

    Nur zur Information : das "Kinderhilfswerk world vision" ist eine evangelikale Organisation die der christlich-fundamentalistischen Evangelischen Allianz angehört.

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