Fazit | 8. und 9. Mai in Berlin - Kriegsgedenken in Zeiten des Krieges

Die Eskalation blieb aus: Der "Tag der Befreiung" in Berlin ließ sich nicht für die Umdeutung des Angriffskriegs in der Ukraine missbrauchen. Weil sich die meisten Betroffenen angemessen verhielten - und der diplomatische Einsatz der Polizei aufging. Von Olaf Sundermeyer
Die Zeitenwende im 77. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte auch den "Tag der Befreiung" erfasst. Das Kriegsgedenken an den Sowjetischen Ehrenmälern in Berlin konnte zwar ohne die befürchtete Eskalation stattfinden, es blieb bei einzelnen Provokationen. Aber der Zivilisationsbruch Russlands hat die politisch-moralische Legitimation nachhaltig beschädigt, mit der das Land in Europa bislang seinen Umgang als Befreier vom Faschismus erfahren hat. Diese Zäsur markiert der 8. und 9. Mai 2022.
Auch wenn bei Politik und Polizei in Berlin zunächst die Erleichterung über die ausgebliebene Eskalation überwiegen dürfte: Am 75. Tag des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist es schwer vorstellbar, dass ein Kriegsgedenken in Berlin, wie wir es kannten, künftig noch in dieser Form stattfinden wird.
Der Sonntag der ukrainischen, der Montag der russichen Erinnerung
Es war von Anfang an klar, dass es vielen am "Tag der Befreiung" nicht nur um den Krieg gehen würde, der vor 77 Jahren mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und der Befreiung vom Nationalsozialismus zu Ende gegangen war. Zumal die staatliche russische Umdeutung den eigenen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu einem erneuten Kampf gegen den Faschismus erklärt hatte.
Und zu diesem zweitägigen Kriegsgedenken in Berlin versammelten sich viele, die dieser Erzählung von Wladimir Putin folgen. Von Mitgliedern der offiziellen russischen Delegation, über die nationalistischen, Putin-treuen Rocker "Nachtwölfe", bis zu einigen älteren Aktivisten der Berliner Linken, die den ukrainischen Botschafter bei dessen Kranzniederlegung lautstark beschimpften.
Der Sonntag stand vor allem im Zeichen der ukrainischen Erinnerung, den Montag dominierten die Russen, an beiden Tagen kam die Berliner Polizei zu einer Art diplomatischem Einsatz, um zu verhindern, dass der Konflikt zwischen Russen und Ukrainern auch an den wichtigen Berliner Erinnerungsorten ausbricht.
Fahnenverbot im Kern erfolgreich
Dabei fielen an beiden Tagen vor allem jene durch Provokationen auf, die nicht mittelbar an der Sache des Kriegsgedenkens beteiligt waren: Deutsche Putin-Versteher, Kommunisten aus ganz Europa, einzelne deutsche Neonazis, Youtuber, "Reichsbürger oder übereifrige deutsche Unterstützer ukrainischer Flüchtlinge. Sie bestimmten das Protestgeschehen am Rande. Einzelne Gedenkteilnehmer, die mit kommunistischer oder russischer Symbolik provozierten, wurden von der Polizei des Platzes verwiesen.
Grundsätzlich aufgegangen ist auch die Strategie der Polizei, mit einem Verbot von ukrainischen und russischen Flaggen im Umfeld von 15 Gedenkorten für gewaltfreie Versammlungen zu sorgen. Auch wenn es durch dieses Verbot an manchen Stellen - wie vor dem Ehrenmal am Tiergarten - erst zu Provokationen kam. Zudem führte diese Auflage für scharfe Kritik - vor allem seitens der ukrainischen Offiziellen.
Angemessen verhielten sich auf jeden Fall diejenigen, um die es an diesem "Tag der Befreiung" ging: Einige wenige Veteranen und rund 500 Familienangehörige, die den Opfern der "Schlacht um Berlin" beim "Marsch der Rotarmisten" vom Brandenburger Tor zum Ehrenmal im Tiergarten gedachten. Frei von nationalistischer, russischer Symbolik, vereint in Erinnerung, Gesang und Trauer.
Sendung: rbb24 Abendschau, 09.05.2022, 19:30 Uhr