Interview | Sozialwissenschaftlerin zu älterer Mutterschaft - "Kinder zu haben muss man sich leisten können"

Frauen in Deutschland werden immer älter, wenn sie ihr erstes Kind bekommen. Die Sozialwissenschaftlerin Friederike Beier spricht über mögliche Gründe für die Entscheidung, spät Mutter zu werden.
Deutschlands Mütter sind bei der Geburt ihres ersten Babys immer älter - ein Trend, der sich inzwischen seit zehn Jahren kontinuierlich fortsetzt. Im Jahr 2020 lag das Durchschnittsalter der Mütter bei ihrer ersten Geburt bei 30,2 Jahren (Berlin: 31, Brandenburg: 30 Jahre), zehn Jahre zuvor noch bei 29 Jahren, wie das Statistische Bundesamt Anfang Mai mitteilte.
EU-weit lag das Durchschnittsalter 2020 bei 29,5 Jahren. Im Schnitt am Ältesten waren Italienerinnen mit 31,4 Jahren, am jüngsten waren die Bulgarinnen mit 26,4 Jahren.
rbb|24: Guten Tag, Frau Beier. Gibt es eigentlich einen "richtigen" Zeitpunkt, um Kinder zu bekommen in Deutschland?
Friederike Beier: Nein. Vor allen Dingen nicht für Mütter. Wenn Väter über 40 sind, gilt das als normal. Wenn sie jung sind, wird das noch positiv hervorgehoben. Das ist wie mit den Vätern, die positiv erwähnt werden, weil man sie im Stadtbild mit Kinderwagen sieht. Bei Frauen sagt da niemand etwas Positives.
Frauen müssen zudem dem Druck standhalten, bei der Arbeit erfolgreich zu sein und einen guten Zeitpunkt zu finden, Mutter zu werden. Dafür ist es aber immer zu früh oder zu spät. Und wenn sie sich dafür entschieden haben, bleibt an den Frauen dann der Hauptteil der Haus- und Sorgearbeit kleben. Sie müssen am Ende schaukeln, was gesellschaftlich falsch läuft.
Mütter in Deutschland sind bei der Geburt ihres ersten Kind immer älter, im Schnitt knapp über 30 Jahre alt. Warum ist das so und warum ist das in manchen – auch europäischen – Ländern wir Bulgarien beispielsweise anders?
Ich finde ich es schade, dass so viel von später Mutterschaft oder alten Müttern gesprochen wird und so wenig von später Elternschaft. Auch bei Vätern gibt es den Trend, dass sie immer älter werden. Hier liegt der Durchschnitt bei fast 35 Jahren.
Für späte Elternschaft gibt es drei Faktoren. Der erste ist ökonomisch, der zweite hat mit der fehlenden Vereinbarkeit zu tun, der dritte ist kulturell bedingt. Ökonomisch nimmt die Unsicherheit zu. Das Lohnniveau wird immer niedriger, dabei steigen die Lebenshaltungskosten. Außerdem gibt es immer mehr befristete Verträge und immer weniger Vollzeitstellen, die über eine lange Zeit angeboten werden. Das führt zu großer Unsicherheit und dazu, die Familienplanung nach hinten zu schieben.
Das sieht man auch, wenn man sich die Wende anschaut. Vor der Wende haben die Menschen in der DDR früh Kinder bekommen – etwa mit Anfang 20. Ein paar Jahre nach der Einheit mit Anfang 30. Das hat sich extrem nach hinten verschoben, weil nach der Wende die Unsicherheit so groß war. Etwas Ähnliches können wir jetzt auch sehen.
Mit der fehlenden Vereinbarkeit meine ich, dass es noch immer kein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagskitas und -schulen gibt. Außerdem reicht das Elterngeld – es sind ja 65 Prozent des Gehaltes – bei niedrigen Löhnen nicht. Und wer studiert oder Hartz IV bekommt, bekommt nur ein Basis-Elterngeld von 300 Euro, das sogar auf Hartz IV angerechnet wird. Davon kann man nicht leben und gleichzeitig ein Kind erziehen. Kinder zu haben, muss man sich aber leisten können.
Der kulturelle Punkt unterscheidet uns am deutlichsten von Ländern wie beispielsweise Bulgarien, wo Menschen früher Kinder bekommen. Bei uns wird von Frauen erwartet, sich beruflich und persönlich selbst zu verwirklichen – und dabei nicht zu früh und nicht zu spät Kinder zu bekommen. Wir leben in einer individuellen Erwerbsgesellschaft – wer da mithalten will, kann sich erstmal keine Kinder erlauben.
Und was läuft in Bulgarien anders?
In Bulgarien leben mehr Menschen noch in ihren Familien, teils in Großfamilien. Hier in Deutschland ziehen viele Menschen wegen ihrer Jobs in andere Städte. Das heißt, sie sind zunehmend individualisiert. In diesem Kontext ist es viel schwieriger, Kinder zu bekommen. Weil man keine familiäre Unterstützung bekommt. So ist eine kollektive Kinderbetreuung nur schwer möglich.
Zeigt die späte Mutterschaft aber nicht auch, wie selbstbestimmt und feministisch die Frauen hier inzwischen sind? Sie kriegen ihre Kinder einfach dann, wenn sie das wollen und nicht dann, wenn ihr Körper am leichtesten in der Lage ist, sich zu reproduzieren.
Es ist erst einmal großartig, wenn Frauen das selbst entscheiden können. Das Stichwort dafür ist "reproduktive Gerechtigkeit". Dafür gab es viele feministische Kämpfe. Bei Männern galt aber schon viel länger als Norm, dass sie sich vorher ausleben und über ökonomische Sicherheit verfügen, bevor sie eine Familie gründen. Es ist also erst einmal positiv, dass Frauen heute ökonomisch nicht von ihren Männern abhängig sein wollen. Aber da wurde der Feminismus auch falsch verstanden. Denn jetzt haben Frauen ökonomisch den gleichen Druck wie Männer, müssen aber zusätzlich noch den Löwinnenanteil der Haus- und Sorgeanteil übernehmen – so kommt es zur Doppelbelastung.
Es ist ambivalent zu betrachten, dass durch das Einfrieren von Eizellen die Mutterschaft nach hinten geschoben werden kann, denn es zeigt auch: Frauen wird nahegelegt, ihre besten Jahren nicht an Kinder zu verschwenden. Sondern sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen.
Wie wirkt sich die ältere Mutterschaft denn gesellschaftspolitisch gesehen für die Frauen aus?
Es hat Vor- und Nachteile, wenn Frauen sehr früh Kinder bekommen. Sie sind dann jünger, fitter und belastbarer, ihnen werden dann aber Karriereambitionen abgesprochen. Sie werden also sehr früh ausgebremst, bestimmte Stellen anzunehmen, weil es heißt, dass sie die mit Kindern nicht ausfüllen können. Wenn Frauen später im Leben Kinder bekommen, wird ihnen oft Egoismus vorgeworfen. Man fragt sie, warum sie denn jetzt noch ein Kind haben müssen. Die Kinder von späten Müttern werden auch gern bemitleidet. Das muss also jede Frau für sich entscheiden.
Aber es hat natürlich auch Vorteile, wenn man ökonomisch abgesichert und beruflich angekommen ist. Doch wenn man mitten im Beruf steht, ist die Vereinbarkeit einfach noch schwerer, während man im Studium oder während der Ausbildung vielleicht noch eine gewisse Flexibilität hat. Beruflich etablierte Vollzeitberufstätige können das kaum mit der Kindererziehung vereinbaren – oder nur unter sehr erschwerten Bedingungen. Das sieht man an der Zunahme von sogenannten Burnouts – denen gerade Mütter ausgesetzt sind.
Da hat die Corona-Krise die Lage auch nicht verbessert.
Ja, da konnte man das gut sehen. Da mussten die Familien ihre Probleme individualisiert lösen. Da waren dann vor allen Dingen die Mütter betroffen, wenn die Kitas und die Schulen geschlossen waren. Dieser Zustand hält ja bis heute an, auch wenn es gerade keinen Lockdown mehr gibt. In vielen Einrichtungen gibt es immer noch eingeschränkte Öffnungszeiten und man darf das Kind nicht bringen, wenn es einen Schnupfen hat.
Apropos Zustand der Kinder. Das Max Planck Institut hat 2016 eine Studie veröffentlicht, nach der Kinder älterer Mütter größer, fitter, gebildeter und erfolgreicher würden als die jüngerer Mütter. Woran könnte das liegen?
Ich denke, dass das soziale und keine biologischen Faktoren sind. Denn spätere Mütter sind oft Akademikerinnen. Denn in diesem Bereich dauert es einfach viel länger, bis die Frauen im Beruf angekommen sind als bei Ausbildungsberufen. Das heißt, Kinder von späten Müttern werden oft in ökonomisch und was Bildung angeht viel besser aufgestellte Familien geboren. Sie verfügen dann, mit Bourdieu gesprochen, über mehr Bildungskapital und haben dadurch einen Vorteil.
Viele Mütter arbeiten nach der Geburt ihres ersten Kindes für lange Zeit, wenn nicht sogar für immer, in Teilzeit. Welche Nachteile hat das?
Es wäre begrüßenswert, wenn alle Menschen weniger arbeiten würden. Das wäre gut für die Gesundheit, die Psyche, aber auch aus der Sicht von Klima und Umwelt. Und natürlich lassen sich Familie und Beruf mit Teilzeitstellen viel besser vereinbaren. Wenn man nicht Vollzeit arbeitet, kann man mehr für die Kinder da sein und sie unterstützen.
Gleichzeitig gibt es da eine enorme Geschlechterungleichheit. Teilzeitjobs sind meistens ohnehin schon prekäre – oft im Niedriglohnsektor angesiedelte – Stellen. Außerdem fehlt ein Teil des Lohnes. Da geht die Vereinbarkeit zu Lasten von ökonomischer Unabhängigkeit. Das hat langfristige Folgen. Es gibt den Gender-Pension-Gap, das ist eine geschlechtsspezifische Unterscheidung der Renten. Der wurde für das Jahr 2007 so berechnet, dass er bei fast 60 Prozent liegt. Wenn Männer also 1.600 Euro durchschnittlich im Alterssicherungseinkommen bekommen haben, liegen die Frauen bei nur 645 Euro. Das ist unterhalb der Armutsgrenze. Arbeitszeitreduzierung müsste also bei vollem Lohnausgleich stattfinden können.
Die unbezahlte Sorgearbeit, also alles rund um die Belange der Kinder und den Haushalt in den Familien liegt in den meisten Familien nach wie vor mehrheitlich bei den Müttern – ist das auch bei älteren Müttern so?
Tatsächlich ist der Unterschied in der Sorgearbeit zwischen Frauen und Männern, der sogenannte Gender-Care-Gap, mit 34 Jahren am größten. Da liegt er bei über 100 Prozent statt 50 Prozent. Das heißt, Frauen arbeiten da über fünf Stunden und 20 Minuten unbezahlt in der Sorgearbeit täglich. Während es bei Männern nur zweieinhalb Stunden sind. Die meisten Frauen haben da auch nicht die Möglichkeit, wieder Vollzeit zu arbeiten. Und das wirkt sich langfristig auf die ökonomische Geschlechterungleichheit aus.
Wie könnte man das ändern?
Es gibt verschiedene Maßnahmen, die dem entgegenwirken könnten. Das eine wäre der flächendeckende Ausbau von Ganztags-Kitaplätzen. Aber da darf es nicht nur um die Plätze gehen, sondern auch um das Personal. Und da das wieder vor allen Dingen Frauen sind, die dann auch noch schlecht bezahlt werden, hat das auch wieder eine Auswirkung. Wer in der Kita arbeitet, kann selbst auch kaum von diesem Lohn leben oder nicht auf Teile des Gehalts verzichten und in Elternzeit gehen. Das alles funktioniert nur, wenn wir die Sorgeberufe aufwerten und besser bezahlen.
Außerdem würde es Sinn machen, die verpflichtende Elternzeit für beide Partner zu erhöhen. Bekannt sind die zwei Vätermonate, die viele nehmen, damit die Familie das ganze Elterngeld bekommt. Würden die Pflichtmonate für Väter auf fünf oder sechs Monate erhöht, käme es zu mehr gesellschaftlicher Akzeptanz darüber, dass Väter Elternzeit nehmen.
Zusätzlich wäre es wichtig, man würde das Elterngeld ausbauen und eine Art Basis-Elterngeld von etwa 1.000 Euro einführen, damit die Familien auch davon auch leben können. Außerdem würden generell familienfreundlichere Arbeitsbedingungen helfen. Bisher ist die Erwerbsarbeit in Deutschland extrem familienfeindlich.
Noch gilt hier die Norm des weitgehend Fürsorge-befreiten Mannes. Es gibt aber auch andere Modelle in anderen Ländern - wie zum Beispiel in Dänemark. Dort ist es ganz normal, dass Väter nach 15 Uhr keine Meetings mehr machen, weil sie dann ihre Kinder abholen müssen.
Was könnte man jungen Menschen raten?
Dass junge Menschen nicht individuell bewältigen können, was gesellschaftlich schiefläuft, ist ja klar. Aber man kann ihnen empfehlen, sich rechtzeitig mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sie Kinder wollen und unter welchen Umständen. Und auch, so unsexy das sein mag, wenn sie potenzielle Partner:innen kennenlernen oder erste Dates haben, diese Fragen möglichst gleich zu klären. Viele verschieben diese Frage auf einen sehr späten Zeitpunkt. Dann ist es oft nicht mehr möglich, Elternschaft so umzusetzen, wie sie es gerne möchten.
Es würde auch Sinn machen, früh andere einzubeziehen. Auch wenn man nicht mehr in der Nähe seiner Familien lebt, gibt es ja Freundeskreise und Wahlverwandtschaften – da gibt es eine Menge Menschen, die selbst keine Kinder haben wollen, die aber gerne Zeit mit Kindern verbringen.
Das Thema Kinder ist in vielen Kreisen total verpönt und gilt als sehr privat, doch wir müssen gesellschaftlich darüber sprechen und uns mehr darüber austauschen, unter welchen Bedingungen man Kinder bekommt.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Prieß, rbb|24
Sendung: Inforadio, 18.05.2022, 10:25 Uhr