Kommentar - Eigentor Neun-Euro-Ticket

Seit dem 1. Juni gilt das Neun-Euro-Ticket. Doch die Bahn ist dem Andrang vor allem an Wochenenden nicht gewachsen. Wenn sich nichts verbessert, wird das Neun-Euro-Ticket sogar zu mehr Autoverkehr führen. Ein Kommentar von Lisa Steger
Pfingstsonntag in der Regionalbahn RE1. 10:03 Uhr, Abfahrt vom Alexanderplatz. Kurz darauf folgt ein langer Halt im Hauptbahnhof und eine Durchsage: Eine Tür oder mehrere Türen - das bleibt unklar - gehen nicht mehr zu: "Die Weiterfahrt verzögert sich auf unbestimmte Zeit". Etwa zehn Minuten später: Weiterfahrt, allerdings nur bis Charlottenburg.
Wieder lassen sich wegen Überfüllung des Zuges einzelne Türen nicht mehr schließen. Eine neue Durchsage ertönt: Wer nach Potsdam wolle, solle den Zug verlassen. Die Bundespolizei sei schon unterwegs und werde die Waggons notfalls räumen. Viele steigen aus - auch ich. Zehn Minuten später rollt auf dem Gleis gegenüber ein neuer Zug ein. Alle quetschen sich hinein.
Es herrscht ein Gedränge wie im Viehtransporter. Wenig überraschend: Auch dieser Zug kann wegen zu vieler Passagiere zunächst nicht weiterfahren. Die gesamte Verspätung beträgt am Ende 40 Minuten. Eigentlich das, was ich häufig im ICE erlebe - nur handelt es sich hier um Nahverkehr.
Unterdessen rieten die die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gegen Mittag im Internet, einen der RE1-Züge am Sonntagnachmittag nicht zu benutzen - er sei zu voll. Der folgende Zug, so teilte man mit, falle aus. Grund sei eine Fahrzeugreparatur in Fürstenwalde.
Probleme bereits am Samstag vor Pfingsten
Am Tag zuvor war ich mit dem RE 1 - bitte nicht lachen - im Stau gelandet, so jedenfalls die Durchsage. Der Zug konnte deshalb in den Berliner Hauptbahnhof nicht einfahren. In Werder an der Havel traf ich auf eine Menschenmenge, die vom Zug nach Berlin einfach stehengelassen worden war: Man hatte den Menschen gesagt, sie dürften nicht hinein und sollten einfach eine halbe Stunde auf die nächste Bahn warten.
Am späten Samstagnachmittag wieder am Alexanderplatz angekommen, studierte ich die Anzeigetafel. Ein Zug der Linie RE 7 zum BER hatte volle 80 Minuten Verspätung! Reine Glückssache für die Reisewilligen, ihren Flieger dennoch zu erreichen.
Bei meinen Fahrten bin ich mit vielen Passagieren ins Gespräch gekommen. Alle waren sich einig: Nie wieder Deutsche Bahn. Jedenfalls nicht am Wochenende. Ein 19-jähriger Este teilte mir mit, in seiner Heimat gebe es diese Probleme nicht.
Meine Gesprächspartner erklärten überwiegend, dass sie wieder mehr Auto fahren möchten. Sieht so etwa die Verkehrswende aus? Das Neun-Euro-Ticket läuft Gefahr, seinen Zweck zu verfehlen, gar das Gegenteil des Beabsichtigten zu erreichen.
Pannenstart mit Folgeproblemen
Die Bahn, die schon im Berufsverkehr ihre Fahrgäste, mich beispielsweise, auf eine harte Geduldsprobe stellt, hat den doppelten Stresstest - Neun-Euro-Ticket und Urlaubszeit - nicht bestanden. Doch dafür ist das Unternehmen nicht allein verantwortlich.
Es war ein schwerer Fehler der Ampel, auf einen Schlag Millionen neue Kunden auf die Bahn loszulassen, die dafür nicht gerüstet ist. Und es war unüberlegt von Bundestag und Bundesrat, diesen Aktionismus mitzutragen.
Das Neun-Euro-Ticket soll vor allem Pendlern zugutekommen, also Leuten wie mir. Aus meiner Sicht ist es allerdings eine überflüssige Subvention, denn ich kann meine Fahrten zur Arbeit ohnehin von der Steuer absetzen - Stichwort "Pendlerpauschale".
Zweieinhalb Milliarden Euro hat der Bund für das neue Ticket von Juni bis August eingeplant. Geld, das man sinnvoller ausgeben könnte und müsste. Zum Beispiel für mehr Waggons, eine engere Taktung, mehr Lokführer. Dann würden die Leute vielleicht auch freiwillig vom Auto auf die Bahn umsteigen. Sogar, wenn sie dafür den bisher üblichen Preis bezahlen müssten.
Sendung: Inforadio, 05.06.2022, 18:00 Uhr