Verfassungsgerichtsurteile in Brandenburg - Von Streitschlichtern und Schiedsrichtern

Mi 22.06.22 | 15:46 Uhr | Von Amelie Ernst
Archiv: Markus Möller (M), Präsident des Brandenburger Verfassungsgerichtes, spricht nach der Urteilsverkündung über die Verfassungsbeschwerde gegen das vom Landtag beschlossene Paritätsgesetz. Neben ihm sitzen (l-r) Richterin Kathleen Heinrich-Reichow, Rechtsanwalt Dirk Lammer, Richterin Christine Kirbach, Vizepräsident Michael Strauß, Rechtsanwalt Ulrich Becker, Schriftstellerin Juli Zeh und Rechtsanwältin Karen Sokoll. Das Gericht hat das Paritätsgesetz zu den Kandidatenlisten der Parteien für Landtagswahlen gekippt. Das Gesetz schrieb vor, dass künftig abwechselnd gleich viele Frauen und Männer auf den Listen kandidieren müssen. (Foto: Soeren Stache/dpa)
Video: rbb24 Brandenburg Aktuell | 22.06.2022 | Christoph Hölscher | Bild: Soeren Stache/dpa

30 Jahre Brandenburger Verfassung – das bedeutet auch: Seit fast 30 Jahren muss das Brandenburger Verfassungsgericht bei Streitigkeiten rund um die Verfassung entscheiden. Immer öfter verlässt sich dabei die Politik auf die Justiz. Von Amelie Ernst

Mehr als 1.500 Entscheidungen hat das Brandenburger Verfassungsgericht seit 1993 gefällt – eine Auswahl der wichtigsten und wegweisendsten:

1993

Die Städte Eisenhüttenstadt und Guben sollen im Rahmen der Kreisneugliederung "getrennt" und unterschiedlichen Landkreisen zugeschlagen werden. Das wollen sie nicht akzeptieren und ziehen vor das Verfassungsgericht. Ohne Erfolg: Laut Gericht kann das Land nach ausführlicher Abwägung die Kreisgrenzen so festlegen. Eisenhüttenstadt gehört seitdem zu Oder-Spree, Guben zu Spree-Neiße.

1995

Die Verfassungsrichterinnen und -richter stoppen vorübergehend die Abbaggerung des Braunkohle-Dorfes Horno. Ein Gericht, das Braunkohle-Bagger in die Schranken weist – das Ansehen des neuen Gerichts wächst, nicht nur in der Lausitz.

1998

Die Abbaggerung von Horno ist nun doch mit der Verfassung vereinbar – Grund ist das neue Braunkohlegrundlagengesetz. Die PDS hatte zuvor das Verfassungsgericht angerufen und auf den Schutz der sorbischen Minderheit hingewiesen – ohne Erfolg. 2004 entsteht "Neu-Horno"; 2005 muss das letzte Haus in Horno weichen.

1999

Seit 1996 gibt es in Brandenburg ein Polizeigesetz, mit dem der sogenannte "Große Lauschangriff" und der Einsatz verdeckter Ermittler erlaubt sind. Die PDS kritisiert, dass die Polizei damit zu viele Befugnisse bekommt – selbst unbescholtene Bürger könnten ins Visier geraten. Doch das Brandenburger Verfassungsgericht bestätigt das Gesetz im Kern. Das Abhören privater Wohnungen sei zwar ein Eingriff in die Grundrechte, so die RichterInnen - zur Abwehr dringender Gefahren aber zulässig. Allerdings müssen künftig erhobene Daten gelöscht werden sobald die konkrete Überwachungsaufgabe erledigt ist. Außerdem stellt das Gericht klar: Unbeteiligte dürfen nicht mit technischen Mitteln überwacht werden. Und: Wer von verdeckten Ermittlern observiert wird, muss anschließend darüber informiert werden. Das Polizeigesetz muss an insgesamt sieben Stellen nachgebessert werden.

2000

Die Gemeinde Grießen fühlt sich bei den weiteren Planungen für den Braunkohletagebau Jänschwalde von der Landesregierung übergangen und bekommt Recht: Der Braunkohleplan Jänschwalde wird abgelehnt, da der Braunkohleausschuss rechtlich nicht legitimiert war – die Landesregierung ist überrascht, verweist aber auf das Braunkohlegrundlagengesetz, mit dem Umsiedlungen wie in Horno weiter möglich sind.

2004

Die PDS klagt vor dem Landesverfassungsgericht erfolgreich auf Akteneinsicht. Das Innenministerium muss der Abgeordneten Kerstin Kaiser-Nicht Einblick in die Akten des Verfassungsschutzes im Zusammenhang mit der Affäre um V-Mann Toni S. gewähren. Kaiser-Nicht ist Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission – zunächst war ihre Anfrage auf Akteneinsicht abgelehnt worden.

2007

Das Geld wird immer knapper – deshalb klagt Uckermark-Landrat Klemens Schmitz (parteilos) gegen den Finanzausgleich und das Haushaltsstrukturgesetz des Landes. Für die immer größer werdenden Aufgaben der kommunalen Verwaltung sei nicht genügend Geld da, der Kreis steht kurz vor der "akuten Haushaltsnotlage". Ein Grund: Vergleichsweise wenige Einwohner:innen und viele viele Arbeitslose. Doch das Verfassungsgericht entscheidet zu Ungunsten der Uckermark.

Landesverfassung

Mit einer Feierstunde hat der Brandenburger Landtag am Mittwoch das 30-jährige Bestehen der Landesverfassung gewürdigt. Sie war am 14. Juni 1992 von den Brandenburger Bürgerinnen und Bürgern mit einem Volksentscheid angenommen worden.

"Die Mütter und Väter der Verfassung haben es geschafft, das Wesen unseres Landes in Worte zu fassen", sagte Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD). Die Entscheidung für eine Volksabstimmung habe dafür gesorgt, dass sich jeder Bürger mit den Regeln für das Zusammenleben auseinandersetzen konnte und was diese für sein Leben bedeuten. "Das Votum von 94 Prozent gab eine eindeutige Antwort auf diese Fragen."

Die Richterin des Bundesverfassungsgerichts, Ines Härtel, nannte die friedliche Revolution von 1989 als eine Grundlage der Brandenburger Landesverfassung. Der Ruf "Keine Gewalt!" sei die Losung dieser Revolution gewesen und in das Regelwerk für ein friedliches Zusammenleben eingeflossen. Und mit dem Ruf "Wir sind das Volk!" sei die Teilhabe aller Bürger erstritten worden, sagte Härtel. "Die Bürger sind Hüter der Verfassung, gemeinsam mit der Verfassungsgerichtsbarkeit, dem Parlament und der Landesregierung."

2013

Das Brandenburger Verfassungsgericht erklärt die bisherige Kita-Finanzierung für verfassungswidrig. Die Kostenregelung für eine bessere Personalausstattung muss neu geregelt werden. Geklagt hatten die vier kreisfreien Städte Potsdam, Cottbus, Frankfurt und Brandenburg (Havel). Sie hatten sich dagegen gewehrt, dass seit 2010 vor allem die Kommunen die Kosten für mehr Personal in den Kitas zahlen mussten.

2014

Auch wenn es in der Turnhalle durch die Decke tropft oder die Tische wackeln – die Freien Schulen in Brandenburg können nicht auf weitere Zuschüsse vom Land hoffen, so entscheidet es das Verfassungsgericht. 2011 hatte die rot-rote Landesregierung die staatliche Finanzierung der Freien Schulen gekürzt. Doch das verstoße nicht gegen die Verfassung, so das Gericht. Die Freien Schulen seien in ihrer Existenz nicht bedroht – es hätten trotz der Kürzungen sogar neue Schulen aufgemacht. Die Kläger, Landtagsabgeordnete von CDU, FDP und Grünen, räumen anschließend ihre Niederlage ein.

2020

Gleich viele Männer wie Frauen auf den Wahllisten und damit möglichst auch in den Parlamenten: soweit das Ziel der Abgeordneten im Brandenburger Landtag, die das Paritätsgesetz beschlossen hatten. Doch das wird vom Verfassungsgericht kassiert. Die Begründung: Alle Kandidatinnen und Kandidaten für einen Listenplatz müssten gleichbehandelt werden; Wahlrecht und Wahlfreiheit dürften nicht gebeugt werden, um Gleichberechtigung zu erreichen. Parteien dürfen weiterhin selbst entscheiden, wen sie auf welchen Listenplatz setzen. Eine herbe Niederlage für die rot-schwarz-grüne Regierungskoalition.

2021

Trotz wieder steigender Corona-Infektionszahlen öffnet die Brandenburger Landesregierung im Frühjahr 2021 die Schulen wieder vollständig - Voraussetzung sind allerdings regelmäßige Corona-Tests für die Schüler:innen sein. Die AfD sieht damit Grundrechte verletzt und klagt vor dem Verfassungsgericht. Das Verfassungsgericht weist den Eilantrag zurück und verweist auf das Infektionsschutzgesetz.

2022

Die AfD-Fraktion im Brandenburger Landtag möchte nicht, dass der Verfassungsschutz öffentlich macht, dass die Partei beobachtet wird. Sie sieht die Chancengleichheit in Gefahr, scheitert aber mit ihrer Klage vor dem Verfassungsgericht. Die Richterinnen und Richter urteilen: Die Öffentlichkeit muss sich ein umfassendes Bild von den Parteien machen können – dazu gehörten auch mögliche verfassungsfeindliche Bestrebungen. Nur durch Transparenz sei ein öffentlicher Diskurs möglich. Die AfD kündigt an, weiter gegen die Beobachtung und gegen das Verfassungsschutzgesetz vorzugehen.

Sendung: Antenne Brandenburg, 22.06.2022, 17 Uhr

Beitrag von Amelie Ernst

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