Abschlussbericht - Expertenkommission will sich auf Lehren aus dem Wahl-Chaos einigen

Welche Konsequenzen zieht Berlin aus den vielen Wahlpannen im vergangenen Jahr? 21 Experten wollen sich nun auf einen Abschlussbericht verständigen. Die Organisation der Wahlen in Hamburg könnte zum Vorbild werden. Von Boris Hermel und Christoph Reinhardt
Achtmal seit Dezember haben die Verfassungsrechtlerinnen, Hochschulvertreter, Bezirkswahlleitungsmitglieder, die amtierende Berliner Wahlleiterin Ulrike Rockmann und ihr Hamburger Amtskollege Oliver Rudolf in großer Runde in der Feuerwache in der Voltairestraße in Mitte getagt. In der neunten Sitzung am Freitag wollen die Expertinnen und Experten ihre Empfehlungen für bessere und pannenfreie Wahltage in Berlin festzurren.
Dreh- und Angelpunkt für die Lösung der Berliner Wahl-Probleme: die Stellung der Bezirke. "Vieles wird heterogen organisiert aufgrund der Zuständigkeit der Bezirke mit zwölf Wahlämtern", deutete die amtierende Landeswahlleiterin Rockmann zuletzt vorsichtig Lösungsmöglichkeiten an. "Es besteht die Chance, einiges effektiver zu machen."
Den Super-Wahltag am 26. September 2021 mit Bundestags-, Abgeordnetenhaus-, Bezirkswahlen plus Volksentscheid hatten einige Berliner Bezirke trotz Coronabedingungen ohne erhebliche Probleme bewältigt. Aber in manchen Wahllokalen fehlten ausreichend Wahlkabinen, gingen schon am Vormittag die Stimmzettel aus, oder sie gerieten den überforderten Wahlhelfern durcheinander. Wie zum Beispiel im Steglitzer Wahlbezirk 205 am Insulaner, wo von 448 Erststimmen 402 auf den falschen Zetteln landeten und für ungültig erklärt wurden. Als Gegenmittel dürfte die Kommission dem Vernehmen nach gemeinsame, verbindliche Standards für alle zwölf Bezirkswahlämter und die Landeswahlleitung empfehlen.
Vergleich mit Hamburg hinkt nicht
Eine wichtige Rolle für die Beratungen in der Kommission spielte der Vergleich mit Hamburg. Dort ist Landeswahlleiter Oliver Rudolf in Personalunion auch der Chef des Landeswahlamtes. Über seinen Tisch läuft damit nicht nur die Prüfung der Wahlanzeigen der Parteien und Kandidaten, sondern zentral auch die gesamte Organisation der Wahlen. Die Wahlleitungen der sechs Hamburger Bezirke stimmen sich operativ engstens mit dem Landeswahlleiter ab, der wiederum die notwendigen Mittel im Haushalt der Hamburger Innenbehörde beantragt. In Berlin dagegen liegt die konkrete Organisation der Wahl zuerst bei den – im Vergleich zu Hamburg stärkeren – zwölf Bezirken. Sie beantragen einzeln Haushaltsmittel für die Wahldurchführung beim Finanzsenator. Einige Bezirke setzen Personal aus ihren Bürgerämtern ein, andere wiederum beschäftigen externe Dienstleister für die Organisation der Wahl, was höhere Kosten verursacht.
In Hamburg wird die Ausstattung der Wahllokale zentral festgelegt, ebenso zentral transportiert ein Logistikunternehmen die Stimmzettel in die Lokale. In Berlin dagegen sind die Bezirke selbst für die Ausstattung der Wahllokale zuständig. Hier müssen die ehrenamtlichen Wahlvorstände die Kartons mit den Stimmzetteln ein oder zwei Tage vor dem Wahltag persönlich beim Bezirkswahlamt abholen und selbst ins Wahllokal tragen.
Selbst wenn das Hamburger Beispiel wegen der besonderen Stellung der Bezirke in Berlin nicht eins zu eins übertragbar sein sollte, dürften sich viele der Empfehlungen der Kommission an der Hansestadt orientieren. Die Forderung nach einheitlichen Standards für alle Berliner Bezirke dürfte zwar breite Zustimmung finden, die größere Herausforderung für die Kommission liegt darin, einerseits der Landeswahlleitung mehr Aufgaben zuzuweisen, ohne andererseits allzu tief in die Rechte der bisher unabhängigen Bezirkswahlleitungen einzugreifen.
CDU-Generalsekretär für feste Stellen "mit Durchgriffsrechten"
Denn eine Änderung des Berliner Wahlrechts zu Lasten der Bezirke könnte schnell die Berliner Landesverfassung berühren – und eine politische Lösung kompliziert machen. Die Berliner CDU hat bereits signalisiert, dass sie die bisher ehrenamtliche Landeswahlleitung professionalisieren und festen Stellen ausstatten will. "Mit Durchgriffsrechten", stellt CDU-Generalsekretär Stefan Evers klar, "damit man in den Bezirken führungsstark organisieren kann." Auch in der rot-grün-roten Koalition gibt es Sympathie für eine stärkere Landeswahlleitung, aber wenn es nach dem grünen Benedikt Lux geht: Mit Durchgriffsrechten nur im Notfall, "wenn die Annahme besteht, dass die Wahlen erheblich gefährdet sind". Auch die Experten aus den Bezirken dürften kräftige Einschnitte in ihre Rechte wohl kaum empfehlen.
Aber auch rein logistische Unterstützung für die Bezirke könnte schon erheblich helfen, sagt die amtierende Landeswahlleiterin Rockmann. Digitale Kommunikationstechnik für alle Wahllokale zum Beispiel, um bei auftretenden Problemen schnelle Erreichbarkeit zu garantieren. Auch eine zentrale Auslieferung der Wahlunterlagen für alle Bezirke wie in Hamburg lasse sich regeln, ohne in die Unabhängigkeit der Bezirkswahlämter einzugreifen.
Verfassungsgericht will im September über Pannen bei Berlin-Wahlen verhandeln
Voraussichtlich im Juli will die Kommission ihren abgestimmten Vorschlag öffentlich vorstellen. Ob die Empfehlungen tatsächlich umgesetzt werden, soll zunächst die Innensenatorin beurteilen und anschließend das Abgeordnetenhaus. Zu viel Zeit lassen können sie sich dabei nicht. Ende September will der Berliner Verfassungsgericht mündlich über die zahlreichen Einsprüche gegen die Wahlen verhandeln. Spätestens drei Monate später wollen die Richterinnen und Richter entscheiden, ob die Abgeordnetenhauswahl in Teilen oder komplett wiederholt werden muss. Eine Wiederholungswahl müsste laut Landeswahlgesetz spätestens 90 Tage nach dem Urteil stattfinden – und dann müssten die Empfehlungen der Kommission ja bereits umgesetzt werden.
Berlin wäre übrigens nicht das erste Bundesland, in dem eine Landtagswahl wiederholt werden müsste. Im Mai 1993 erklärte das Hamburger Verfassungsgericht die dortige Landtagswahl von 1991 komplett für ungültig, weil die CDU bei der Kandidatenaufstellung gegen das Wahlgesetz verstoßen hatte. Im September 1993 wurden die Bürgerschaftswahlen wiederholt. In Schleswig-Holstein wurden die Landtagswahl von 2009 für ungültig erklärt, weil es bei der Festlegung von Ausgleichsmandaten gravierende Fehler gegeben hatte.
Sendung: Inforadio, 17.06.2022, 10 Uhr