Umbenennung des Heinrichplatzes - Wieso Rio Reiser und keine Frau?

Do 04.08.22 | 08:54 Uhr | Von Simon Wenzel
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Der Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg. (Quelle: imago/J.Held)
Audio: rbb24 Inforadio | 04.08.2022 | Lukas Kuite | Bild: imago/J.Held

Die bevorstehende Umbenennung des Kreuzberger Heinrichplatzes in Rio-Reiser-Platz stößt nicht überall auf Zustimmung. Eigentlich hatte man sich vorgenommen, Straßen und Plätze im Bezirk möglichst nach Frauen zu benennen. Von Simon Wenzel

Nicht alle Menschen rund um den künftigen Rio-Reiser-Platz sind begeistert von dessen neuem Namen. Skeptische Blicke und kritische Stimmen erntet man, wenn man sich hier, an dem Platz, der noch bis zum 21. August den Namen "Heinrichplatz" trägt, umhört.

Eine "Disneysierung der Gegend" nennt ein alter Kreuzberger die Umbenennung, ein anderer findet "dit kann man nicht so machen", weil sein "Herz am Heinrichplatz hängt". Und eine Anwohnerin fragt sich: Wieso eigentlich schon wieder ein bekannter Mann? "Generell sollten mal mehr Frauennamen mit rein genommen werden", findet sie.

"Aktiv Ideen für die Ehrung von Frauen suchen, statt Ausnahmen zu machen"

Berechtigter Einwand, kann man sagen, denn da war doch mal was. Eigentlich hatte sich die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) in Friedrichshain-Kreuzberg 2005 in einem Beschluss dazu entschieden, bis auf "Ausnahmefälle" Straßen solange nur noch nach Frauen zu benennen, bis 50 Prozent im Bezirk nach Frauen benannt sind. Das ist noch längst nicht der Fall. Derzeit sind weniger als 10 Prozent der Straßen in Friedrichshain-Kreuzberg nach Frauen benannt.

Deshalb hat unter anderem die heutige Fraktionssprecherin der Grünen in der BVV, Sarah Jermutus, 2019 gegen die Umbenennung des Heinrichplatzes in den Rio-Reiser-Platz gestimmt. Sie sagt heute gegenüber dem rbb: "Ich finde es persönlich wichtig, dass wir zu diesem Beschluss stehen und aktiv Ideen für die Ehrung von Frauen suchen, statt immer wieder Ausnahmen zu machen." Dabei sei es für sie unstrittig, dass Rio Reiser und sein Werk zum Bezirk Kreuzberg passen.

Die Grünenfraktion in der BVV gab bei der Abstimmung damals kein einheitliches Votum ab, auch andere Verordnete sahen es wie Jermutus und stimmten gegen die Umbenennung.

Unpräzise Vorgaben für Bevorzugung von Frauennamen

Das Problem an dem Beschluss von 2005: Er ist zu schwammig und nicht bindend. Schließlich dürfen trotzdem Namensvorschläge wie der mit Rio Reiser eingebracht werden, und mit denen muss sich die BVV dann beschäftigen. Außerdem stellt sich die Frage, was denn nun ein Ausnahmefall ist und was nicht.

Immerhin bindend ist das Berliner Straßengesetz und die zugehörige Ausführungsvorschrift, die für alle Bezirke gilt. Darin wird unter anderem vorgegeben, was Personen generell dafür qualifiziert, dass nach ihnen ein Straßenname vergeben wird - das schafft ja auch nicht jede oder jeder. Dort heißt es "Frauen sollen verstärkt Berücksichtigung finden" - allerdings nicht, wenn ein gesamtstädtisches Interesse an der Benennung nach einer männlichen Person besteht. Also auch nicht richtig konkret - genau das sei das Problem, findet Sarah Jermutus.

Kreuzberger Linke verteidigt Ausnahme für Rio Reiser

Oliver Nöll, stellvetretender Bezirksbürgermeister von den Linken - und der Mann, der die Idee, einen Platz nach Rio Reiser zu benennen, initiiert hatte - kann Jermutus' Abstimmung und ihre Haltung zwar nachvollziehen, findet aber, Rio Reiser sei eine berechtigte Ausnahme. "Aufgrund seiner Verdienste um das linksalternative Bild von Friedrichshain-Kreuzberg und der Tatsache, dass er bekennend schwul war zu einer Zeit, in der Homosexualität in Deutschland noch nicht so selbstverständlich war und damit vielen jungen Menschen das Selbstvertrauen gegeben hat, sich für ihre Rechte zu engagieren", sagt Nöll.

Die CDU übrigens stimmte auch gegen die Umbenennung. Um die Einhaltung des Beschlusses, vorrangig Frauennamen zu beachten, ging es bei dieser Ablehnung aber nicht. Vielmehr ist die Partei "grundsätzlich skeptisch gegenüber Umbenennungen", sagt Fraktionsmitglied Timur Husein.

Keine Einheitlichkeit in den Bezirken

Noch komplizierter wird es übrigens, wenn man das Beispiel Rio-Reiser-Platz auf ganz Berlin übertragen will. Denn jeder Bezirk macht ein bisschen seins. Einen expliziten Beschluss, wie es ihn in Friedrichshain-Kreuzberg gibt, haben zum Beispiel noch Mitte, Tempelhof-Schöneberg und Neukölln - allerdings teilweise noch unkonkreter ausgestaltet. Reinickendorf, Steglitz-Zehlendorf und Spandau teilten auf rbb-Anfrage mit, es gebe in ihren Bezirken keinen solchen oder ähnlichen Beschluss. Die übrigen Bezirke konnten bis zum Redaktionsschluss vorerst keine Antworten bereitstellen.

Und es ist auch sehr unterschiedlich, wie häufig Umbenennungen in den Bezirken überhaupt vorkommen. Während beispielsweise Reinickendorf, Spandau und Steglitz-Zehlendorf in den letzten Jahren keine Straßenumbenennungen mehr durchgeführt haben (in Spandau und Steglitz-Zehlendorf ist jeweils eine derzeit in Planung), gab es in Kreuzberg-Friedrichshain im selben Zeitraum drei Umbenennungen, zwei weitere sind bereits konkret geplant.

Rio Reiser ist eine von vier Kreuzberger Ausnahmen in den letzten Jahren

Neben Rio Reiser soll die US-amerikanische Schriftstellerin, Aktivistin und Feministin Audre Lorde bald gewürdigt werden - ein Teil der Manteuffelstraße soll nach ihr benannt werden. Dazu kommen in den nächsten Jahren drei weitere Straßen und ein Platz in Kreuzberg, die nach Frauen benannt werden sollen.

Betrachtet man die Straßennamen der letzten Jahre im Bezirk, ist Rio Reiser tatsächlich eine Ausnahme von der selbst auferlegten Regel: einer von vier Ausnahmefällen, in denen Straßen und Plätze nach Männern benannt oder umbenannt wurden. In der selben Zeit wurden 20 nach Frauen benannt. Menschen wie Sarah Jermutus geht es ja auch nicht darum, dass Männer keinen Raum in der Erinnerungskultur mehr kriegen sollen.

Und so könnte man die Frage vielleicht auch umleiten: Hätte Rio Reiser nicht auch eine Statue oder Gedenktafel am Heinrichplatz bekommen können, statt den ganzen Platz? Das hätte vielleicht auch den Anwohnern besser gefallen.

Sendung: rbb24 Inforadio, 04.08.2022, 6 Uhr

Beitrag von Simon Wenzel

94 Kommentare

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  1. 93.

    Dem kann ich nicht wiedersprechen, aber er und Engels haben ja schon ihre Würdigungen.

  2. 92.

    Sehen sie es mir nach, aber egal welchen dieser Heinrichs von Preußen sie auch meinen, in diesem Punkt muss ich nicht lange überlegen und der Punkt geht klar an Rio Reiser, denn ich möchte weder im preußischen Feudalismus leben noch Kriege für irgendeinen „Blaublütler“ führen.

  3. 91.

    Die Mehrwerttheorie ist nicht nur eine Bereicherung gewesen für den Unternehmer und Freund Engels, sondern ein wesentliches Standbein der Arbeit von Volkwirtschaftlern und auch der Bundesbank und EZB noch heute. In dem Sinne ist Marx ein ganz anderes Kaliber als die Namen, um die es hier bei der Umbenennung geht.

  4. 90.

    Korrektur: Ich habe die Heinriche in Preußen verwechselt; ich dachte an Prinz Friedrich Heinrich Ludwig von Preußen, war fast zur gleichen Zeit wie der Friedrich Heinrich Karl von Preußen, nach dem der Platz wohl benannt ist. Letzterer ist dann wirklich nicht so überragend bedeutend für die Hauptstadt.

  5. 89.

    Der erste Absatz ist mir natürlich geläufig, der zweite nicht.
    Aber was heißt versöhnt? Karl Marx war ja nun nicht irgendein Spinner. In diesem Fachgebiet gibt es keine mathematische Wahrheit im strengeren Sinne, wie in der Physik, sondern nur Modelle, sodass man immer trefflich darüber streiten kann.
    Aber natürlich ist die Sicht von ihm eine wertvolle Bereicherung, Sichtweise und mögliche Einordnung der Dinge.

  6. 88.

    Also in:
    https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2022/08/berlin-kreuzberg-rio-reiser-heinrichplatz-umbenennung.html
    heißt es: " Er ist benannt nach Heinrich von Preußen (1781-1846)." Das wäre ein wichtiger General in der Schlacht von Freiberg (komme halt von der Bergakademie). Das wäre schon eine wichtige Person für Deutschland, die in der Hauptstadt eine Straße oder einen Platz haben kann - zumindest geschichtlich bedeutender aus Sicht der Hauptstadt Deutschlands als Rio Reiser.

  7. 87.

    In Neukölln gibt es nicht nur eine nicht unwichtiger Hauptverkehrs- und Einkaufsstraße, sondern sogar einen U-Bahnhof nach Karl Marx. Auch einen Platz übrigens, der allerdings ist unscheinbar.

    Ansonsten haben einige Städte ihre Vorbehalte ggü. Marx anlässlich seines 200. Geburtstags abgehakt: Trier ließ sich von China eine 5,50 Meter hohe Marx-Statue schenken, nachdem die ursprünglich angedachte Variante von über 8 Metern als "nicht mehr üblich" klassifiziert wurde. Zu Recht. 5,50 Meter sollte dann an seinen Geburtstag anknüpfen. Ansonsten wäre das Geschenk abgeblasen worden.

  8. 86.

    Ich glaub ganz pragmatische Überlegungen.
    Wenn Rio Reiser in Berlin, dann Kreuzberg.
    Heinrichplatz ein Platz mittendrin, mit Namen von jemandem der für Kreuzberg keine Bedeutung hat.
    Und Beamtentum. Es gibt keinen Briefkasten mit der Anschrift Heinrichplatz also niemand der seinen Briefkopf oder Ausweis oder was auch immer ändern muss.

  9. 85.

    Aber ich war ihnen noch eine Antwort schuldig:
    „ Der Platz ist nach Hermann dem Cherusker benannt, ebenso wie die Hermannstraße, allerdings wurde oft vermutet, dass der Platz auch nach Hermann Boddin, dem Rixdorfer Gemeindevorsteher benannt sein könnte.“
    Na ja, dass müssen letztendlich die Neukölner entscheiden, aber ich denke der könnte auch anders heißen.

  10. 84.

    In diesem Fall, so glaube ich, wurde die Abbenennung von Heinrich in Kauf genommen. Das war nicht die Ursache. Die Ursache dürfte die Bekanntheit von Rio Reiser im Umfeld sein und dass Berlin angesichts der Umbenennung keine Kosten entsteht, weil bei den Postadressen nichts geändert werden muss.

    Potsdam hat nach 1990 mehrmals Umbenennungen ohne Umbenennungen betrieben, da allerdings, um aus den verschiedensten Gründen die vorherige Bedeutung aus der Welt zu schaffen:
    Friedrich-Ebert-Straße: nicht mehr der Sohn, der für den Zusammenschluss von KPD und SPD eintrat unter den Namen SED, sondern der Vater, der Reichspräsident war; Platz der Einheit: Nicht mehr jene unter den Namen SED, sondern in Bezug auf Deutschland; Feuerbachstraße: nicht mehr der Philosoph Ludwig Feuerbach, auf den sich Marx stützte, sondern der Maler Anselm Feuerbach.

  11. 82.

    https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2022/08/berlin-kreuzberg-rio-reiser-heinrichplatz-umbenennung.html

    Also wenn man diesem Artikel folgt, hat das Prozedere seinen üblichen Verlauf mit den notwendigen Fristen genommen. Zugegeben, wer liest schon regelmäßig oder überhaupt das Amtsblatt.
    Aber das ist nunmal der übliche rechtskonforme Weg für solche Ankündigungen und dann sind die betroffenen Bürger am Drücker und müssen ggf. reagieren.

  12. 81.

    "Der Anlass schien wohl eine verfehlte Frauenquote zu sein. " Das ist nicht sinnvoll angesichts der Lösung. Ich habe nicht grundsätzlich gegen Umbenennungen. Ich würde aber gern wissen, warum genau dieser Platz. Bei einer Umbenennung gibt es ja nicht nur einen neuen Namen, es verschwindet vorallem ein bisheriger Name und darüber sollte man doch auch nachdenken, daß der bisherige Namensgeber damit nicht mehr präsent ist. Es ist ein Abwägungsprozeß.

  13. 80.

    Widersprüchlicher geht der Umgang der Stalinistin mit solchen Personen überhaupt nicht mehr. Carl-Hans Graf von Hardenberg war Widerstandskämpfer im NS-Regime, Inhaftierter im KZ-Sachsenhausen und wurde zudem von den dort inhaftierten Kommunisten gegen Übergriffe der Wachmannschaften geschützt. (Quelle: Wikipedia)
    Das Marxwalde nun wieder Neuhardenberg heißt, ist ja nur konsequent und richtig.

    Und es gibt ja auch zu Ehren von Karl Marx nach ihm benannte Plätze und Straßen. Also es ist ist ja nicht so, dass man nun in Deutschland nach der Wende eine Hexenjagt auf Karl Marx machte. Denn seine Verdienste über die gesellschaftstheoretischen Analysen als Ökonom und Philosoph sind jedenfalls in der WISSENSCHAFT anerkannt.

  14. 79.

    Warum soweit schweifen bis nach Chemnitz. Näher bei Erkner und im Sendegebiet ist doch das ehemalige Marxwalde, welches auch rückbenannt wurde. Da war immerhin ein wichtiger Flughafen (ist immer noch ein Flughafen, aber wesentlich kleiner jetzt - dafür ein großes Solarfeld).

  15. 78.

    Der Platz muss nicht unbenannt werden, dass geht doch aus dem Kontext des Artikels klar hervor. Denn offenbar gab es ja eine Abstimmung zur Umbenennung.
    Der Anlass schien wohl eine verfehlte Frauenquote zu sein.

    Also das sind die sich mir erschließenden Fakten aus diesem Artikel, ohne persönliche Wertung.

  16. 77.

    In Ostdeutschland wurden tatsächlich sehr viele Straßen, Plätze und sogar mind. eine Stadt (Chemnitz) umbenannt. Wo da die Trennlinien gezogen wurden ist mir auch nicht ganz klar, aber viele "sowjetische Vorbilder" sind dabei auch mit Recht zurückbenannt worden.
    Wichtig war wahrscheinlich auch, wie hieß das "Teil" vorher und gab es irgendeinen vernünftigen Grund, das "Teil" im Osten umzubenennen oder war es eher der Propaganda geschuldet.

  17. 76.

    "Straßen und Plätze sollten gar nicht nach Personen benannt werden. " Ja, das würde viele Probleme in der Zukunft ersparen bei vielleicht anderer Sicht auf die jeweiligen Personen. Aber Ortsnamen sind auch schwierig: Bsp. Landsberger Chaussee, was glauben Sie in Richtung welches Landsberg diese führt, oder wie wäre die Königsberger Straße oder der Ostpreußendamm in Berlin.

  18. 75.

    "Also in den 5 1/2 "neuen" Bundesländern war man in den vergangenen 32 Jahren nicht so zimperlich beim Umbenennen von Straßen und Plätzen." Sicher, daß Sie da richtig informiert sind? Sie glauben dann wahrscheinlich nicht, durch wieviele Ernst-Thälmann-Straßen ich, um ein Beispiel zu nennen, jeden Tag durch verschiedene Dörfer und Kleinstädte in Brandenburg fahre. Und auch sowas wie ein Spartakusring zur Ehrung des Spartakusbundes der KPD existiert weiterhin. Die Beispiele ließen sich ewig fortführen.

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