Kündigungswelle - Sozialpsychiatrischer Dienst in Neukölln stellt telefonischen Notdienst ein

Di 11.10.22 | 07:32 Uhr | Von Andrea Everwien, Oda Tischewski, Efthymis Angeloudis
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Symbolbild: Eine Psychiaterin steht in ihrem Büro vor ihrem Schreibtisch. (Quelle: imago images/koall)
Video: rbb24 Abendschau | 10.10.2022 | Andrea Everwien | Bild: imago images/koall

Der sozialpsychiatrische Dienst in Neukölln soll Menschen in akuten psychischen Ausnahmesituationen beistehen. Doch nach einem Streit im Gesundheitsamt ist niemand mehr da, um Betroffenen zu helfen. Von A. Everwien, O. Tischewski, E. Angeloudis

Christian Pragst hat ein schlechtes Gewissen. Er wollte seinen Job beim Sozialpsychiatrischen Dienst (SpD) in Neukölln gerne besser machen. Aber für ihn und für viele andere im Neuköllner SpD ist eine Grenze überschritten worden. Dabei ist es die Aufgabe des Sozialpsychiatrischen Dienstes, es zu solchen Eskalation gar nicht erst kommen zu lassen, sagt Pragst, der nach drei Jahren als Psychotherapeut beim SpD kürzlich gekündigt hat. "Man gewöhnt sich an alles”, sagt der Psychologe, "aber das sollte man nicht."

Leiterin und Mitarbeitende verlassen den Dienst

Die Bereichsleitung, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, sowie weitere sechs Psychologen und Sozialarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes haben in den letzten Monaten gekündigt. Der Personalmangel zwang die wenigen verbliebenen Ärzte, Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter mit einem Hilferuf auf den Notstand aufmerksam zu machen. Die Versorgungslage sei “katastrophal“, heißt es in dem Appell an den Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD). Auch der telefonische Notdienst ist ausgesetzt. Eine Nachricht vom Band verweist Betroffene an Polizei und Feuerwehr.

"Jemand will demnächst seinen Vater mit der Axt erschlagen. Ein anderer trägt keine Kleidung mehr, lebt in einer anderen Realität, verkennt Menschen und Situationen, rastet gelegentlich aus und bedroht Passanten. Wer kümmert sich, leitet den Weg ins komplexe Hilfesystem? Wer beurteilt, ob jemand eine Gefahr für sich oder andere ist, also auch gegen seinen Willen in die Klinik muss?", heißt es in dem Hilferuf der Mitarbeiter Sozialpsychiatrischen Dienstes in Neukölln.

Nur noch eine Ärztin übrig

Die Priorisierung von akuten Fällen beim Neuköllner SpD sei tragisch, weil man somit Krisen nicht unterbinden könne, sagt Pragst dem rbb. "Wenn wir nur noch ausrücken, weil jemand gerade in einer ganz gefährlichen Situation steckt, dann müssen wir vieles liegen lassen und warten, bis etwas Schlimmeres passiert."

"Ende letzten Jahres waren wir noch voll besetzt", sagt Pragst dem rbb. Sechs Ärzte haben des SpD damals unterstützt. "Ab November ist es dann nur noch eine. Das ist schon eine sehr drastische Veränderung." Vieles habe damit zu tun, dass die Ressourcen nicht richtig eingesetzt worden sein, so Pragst. “Akut hat es sich nochmal drastisch verschlimmert, weil wir in dieser Situation die wenigen wirklich guten Fachkräfte, die wir hatten, gerade auch in der Leitung, jetzt auch noch aufgrund von persönlichen Streitigkeiten verlieren."

Konflikt im Gesundheitsamt

Gemeint ist die Gesundheitsstadträtin Mirjam Blumenthal (SPD), deren umstrittener Führungsstil zu Konflikten mit ihrem Amtsarzt Nicolai Savaskan und zu den Kündigungen des Personals geführt haben soll.

"Nein, das sehe ich nicht so", sagt Jochen Biedermann, der stellvertretende Bürgermeister Neuköllns dem rbb. "Wir haben eine schwierige Situation im Gesundheitsamt, das ist keine Frage. Aber ich glaube nicht, dass die Gesundheitsstadträtin das Problem ist."

Es sei auch nicht das erste Mal, dass sich der Sozialpsychiatrische Dienst in solch einer Krisenlage befinden würde. "Wir hatten ja schon 2019/2020 die Situation, dass der Krisendienst über Monate hinweg nicht stattfinden konnte." Der Bezirk versuche, die freien Stellen schnellstmöglich zu besetzen und Menschen dafür zu gewinnen, im Gesundheitsamt Neukölln zu arbeiten.

Der Krisendienst braucht den SpD

Und dennoch wartet neu eingestelltes Personal monatelang auf Arbeitsverträge. Wer noch da ist, muss sich bei der Arbeit darauf konzentrieren, das Schlimmste zu verhindern. Für Einrichtungen wie Zuhause im Kiez, ein Wohnprojekt vorrangig für Suchtkranke, ist der Ausfall des SpD Notdienstes in Neukölln ein großes Problem.

"Wenn Menschen bei uns in psychische Krisen geraten, dann kann das sein, dass wir den Notdienst vom Sozialpsychiatrischen Dienst benötigen", sagt Isa Meusel, Leiterin eines Projektes nahe der Sonnenallee. "Wenn der Klient für uns nicht mehr zu erreichen ist und sich selber gefährdet oder andere gefährdet, dann müssen wir natürlich handeln. Und dann ist der SpD am Zug."

Doppelspitze als Lösung?

Nun will der Bezirk dem Chaos Herr werden und das Neuköllner Gesundheitsamt umkrempeln. Nachdem Neuköllns bisherigem Amtsarzt vor Kurzem gekündigt wurde, soll der neuen amtsärztlichen Leitung künftig eine Verwaltungsleitung zur Seite gestellt werden. "Es ist eine Doppelspitze, wo sich eine Verwaltungsleitung um die Fragen von Personaleinstellungen, von Finanzen, von Organisationen kümmern soll", sagt Biedermann dem rbb. "Auf der anderen Seite die Stelle einer Amtsärztin oder eines Amtsarztes, die natürlich in den ärztlichen Geschichten auch unabhängig ist und selbstverständlich nicht irgendwelchen Weisungen unterliegt."

Der Verband der Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst hat Zweifel daran, ein Gesundheitsamtsleiter ohne medizinische Qualifikation ist für sie eine Fehlkonstruktion, so ihre Stellungnahme. Wann die Doppelspitze überhaupt kommt und wie es in der Zwischenzeit mit den Patienten weitergeht, ist bislang unklar.

Sendung: rbb24 Abendschau, 10.10.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Andrea Everwien, Oda Tischewski, Efthymis Angeloudis

11 Kommentare

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  1. 11.

    Wesentlicher Inhalt des unten verlinkten BZ-Artikels ist die Aussage mehrerer nicht benannter Personen, die Stadträtin plane die Ausführung ärztlicher Leitungsaufgaben durch Ärzt*e ohne amtsärztliche Zusatzausbildung. Das Amt verneint eine solche Absicht. Immerhin stellt die BZ einen greifbaren Konflikt dar. Aber was ist hier Fakt? - Und ist DAS nun tatsächlich der Grund für mehrere Ärzt*e und Sozialarbeiter*, ihren Job hinzuschmeissen? Wir brauchen als Bürger* sauber recherchierte Fakten! Sensations-Zitate wie der potenzielle Axtmörder in obigem Artikel schüren zwar Stimmungen, aber das ist völlig unnötig: Es gibt wohl niemanden, der das Erfordernis eines funktionierenden (!) SpD anzweifelt. Stimmungsmache ist aber völlig kontraproduktiv für eine sachliche Information der Öffentlichkeit und gar für eine konstruktive Lösungsfindung. Denn dass es schon seit Jahren nicht zum besten steht mit dem SpD hab ich gerüchteweise auch schon gehört. Also bitte, rbb: Butter bei die Fische!

  2. 10.

    was soll dieser Link aussagen? Das das Boulevardmedium BZ draufhaut, ohne Fakten zu kennen oder zu nennen, ist ja nichts neues, aber was sollte das hier erhellendes beitragen?

  3. 9.

    Wenn 6 Ärzte kündigen sollte man vielleicht nicht Herrn Biedermann fragen wodran das liegt sondern die die gekündigt haben! Wer lässt so viele Fachleute gehen ohne aufzuwachen??

  4. 8.

    Wer eine solche Einrichtung permanent unterbesetzt hält, spielt mit Menschenleben.
    Wer eine solche Einrichtung jedoch überhaupt nicht mehr handlungsfähig hält, nimmt den Tod von Menschen bewusst in Kauf.

    Wer sich an solche Notrufe wendet, hat keine Kopfschmerzen oder eine Schulter-Nacken-Verspannung. Wer sich an solche Notrufe wendet, weiß nicht mehr weiter und benötigt UMGEHEND Hilfe. In solchen Krisensituationen können schon einige Stunden "Warten" über die Entscheidung zwischen Weiterleben und Tod entscheiden.

    Ginge es um Finanzen/Einnahmen, wäre das Problem sicherlich längst gelöst. Aber so - sind ja nur Menschenleben, kann also warten. Das ist zumindest mein Eindruck.

    Dass in diesem Land die Versorgung von Depressionen, Angststörungen etc. -vorsichtig ausgedrückt- unerträglich sind, ist seit Jahren bekannt. Dass nun nicht einmal flächendeckend Notfallversorgung gibt lässt mich als Betroffenen ratlos und unglaublich wütend zurück. Insbesondere mit Blick auf die Zukunft.

  5. 6.

    Das empfinde ich gleichfalls so: Der (tiefere) Grund des Streits bleibt nebulös; an die Auseinandersetzung mit dem Amtsarzt Nicolai Savaskan vor einiger Zeit kann ich mich erinnern.

  6. 5.

    Der Dank gilt den verbleibenden Mitarbeiter-innen die mit Herzblut und überdurchschnittliches Engagment ihr Bestes tun, um den Laden aufrecht zu haltn.
    Leider werden diese verbrannt..-wie überall- ..wie lange sollen und können die Kolleg_innen das durchhalten ?.

  7. 4.

    Ahja,
    der SpD in Neukölln, wo mir vor Jahren gesagt wurde, ich sei gesund und soll wieder kommen, wenn ich mich wirklich mal umbringe. Die gute alte Zeit. :)))

    Dachte der Laden funktioniert seit Jahren nicht gut..

  8. 3.

    Da wüsste ich jetzt aber schon gern mehr Konkretes: Aufgrund welcher "persönlichen Streitigkeiten" sehen sich 6 Leute, die sich dem Wohl von Patienten verpflichtet haben veranlasst, zu kündigen? Liegt es daran, dass das Amt wie so viele andere nur langsam Arbeitsverträge ausstellt?Was ist falsch an einer Doppelspitze, in der im Idealfall medizinische und Verwaltungs-Kompetenz zusammenkommen? Oder worum geht es da eigentlich wirklich? Trotz Autoren-Dreierspitze wird mir das aus diesem Artikel nicht klar.

  9. 2.

    Das ist der Berliner Verwaltungsvirus : Inkompetenz, Eitelkeiten und Hierachiengerangel. Das ist seit Jahrzehnten schon so und deshalb müsste die ganze Struktur des Berliner Verwaltungsapparats überarbeitet werden. Aber das wissen wir ja alle ;)

  10. 1.

    Als Mitarbeiterin und Rudowerin fordere ich das Bezirksamt Neukölln auf, umgehend für einen Austausch der Stadträtin für Gesundheit zu sorgen. Herr Biedermann redet die Situation schön. Die verbliebenen Kolleginnen und Kollegen versuchen bestmöglichst, ihre Aufgaben zu erledigen, was aber unter dieser Leitung absolut gegen die Wand gefahren wird.

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