Wahlen - Warum die Linken Berlins neue Bundestagswahlkreise fürchten müssen
Vor der nächsten regulären Bundestagswahl müssen Berliner Bundestagswahlkreise angepasst werden. Doch was die Wahlkreiskommission nun empfiehlt, verschiebt die politischen Gewichte - zu Lasten der Linken, zum Nutzen der SPD. Von S. Schöbel
Die routinemäßige Anpassung der Berliner Bundestagswahlkreise könnte die Linkspartei ihren Platz im Bundestag kosten. Das geht aus der aktuellen Empfehlung der Wahlkreiskommission hervor, die dem rbb exklusiv vorliegt. Denn die sieht vor, dass der Wahlkreis Lichtenberg vor der nächsten regulären Bundestagwahl aufgelöst und auf andere Wahlkreise aufgeteilt wird. Damit würden die Linken eine ihrer wenigen Hochburgen verlieren, ohne die sie aktuell gar nicht mehr im Bundestag sitzen würde.
An Lichtenberg hängt für die Linke wohl der Bundestag
Die Linkspartei war 2021 unter die Fünf-Prozent-Hürde gefallen, schaffte es aber dennoch in den Bundestag, weil sie insgesamt drei Direktmandate gewinnen konnte - zwei davon in den Berliner Wahlkreisen Treptow-Köpenick und Lichtenberg. Ohne Lichtenberg aber droht der Partei nun der Verlust eines relativ sicheren Direktmandats - und bei einem ähnlich schlechten Wahlergebnis wie 2021 wäre der Wiedereinzug in den Bundestag beinahe ausgeschlossen. Die Partei hatte zuletzt mehrere Niederlagen einstecken müssen, bei sämtlichen Landtagswahlen in diesem Jahr blieb sie unter der Fünf-Prozent-Hürde.
Doch nicht nur bei den Linken dürfte die Empfehlung der Wahlkreiskommission für die neuen Bundestagwahlkreise Diskussionen auslösen. Legt man das letzte Bundestagswahlergebnis zugrunde, könnte auch die CDU bei den neuen Wahlkreisen als Verliererin dastehen - während vor allem die SPD profitieren könnte.
Die CDU muss um Reinickendorf bangen
Denn um den Wahlkreis Lichtenberg aufzulösen, muss eine komplexe Verschiebung stattfinden: Fast alle Berliner Bundestagswahlkreise bekommen neue Gebiete dazu und müssen im Gegenzug bestimmte Gebiete abgeben - so, dass am Ende die Bevölkerungszahl in allen Wahlkreisen etwa gleich ist. Als Grundlage dienen die deutlich kleinteiligeren Wahlkreise des Abgeordnetenhauses.
Durch den Vorschlag der Wahlkreiskommission könnten sich die politischen Kräfteverhältnisse zum Teil merklich verschieben. Der Wahlkreis Reinickendorf zum Beispiel würde Gebiete aus Pankow dazubekommen, in denen zuletzt vor allem SPD und Grüne gute Ergebnisse eingefahren haben. Er müsste dafür aber Gebiete an Spandau-Charlottenburg Nord abgeben, in denen 2021 SPD und vor allem CDU viele Wähler hatten. Reinickendorf, wo zuletzt Monika Grütters von der CDU gewann, würde politisch damit wohl in Richtung SPD kippen.
Die SPD kann nur gewinnen
Die SPD wiederum kann sich freuen: In den von ihr gewonnenen Bundestagwahlkreisen würde sich kaum etwas ändern. Vor allem die Wahlkreise des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Michael Müller und des SPD-Generalsekretärs Kevin Kühnert, Charlottenburg-Wilmersdorf und Tempelhof-Schöneberg, blieben unangetastet.
Das Gleiche gilt für den Wahlkreis Berlin-Mitte, in dem die Grüne Hanna Steinmüller das Direktmandat gewann. Ebenfalls unbesorgt könnte wohl CDU-Generalsekretär Mario Czaja sein: Sein Wahlkreis in Marzahn-Hellersdorf würde ein Gebiet aus Lichtenberg dazugewinnen, in dem 2021 die CDU klar die Nase vorn hatte.
Ex-Landeswahlleiterin widerspricht eigenem Vorschlag
Die Vorlage für diesen politischen Verschiebebahnhof lieferte die ehemalige Landeswahlleiterin Ulrike Rockman, nach Aufforderung der Wahlkreiskommission. Eine übliche Aufgabe für Landeswahlleiter, Rockmann hatte dieses Amt in Berlin nach der Pannenwahl 2021 übernommen und bis Ende September inne. In dieser Funktion arbeitete sie auch zwei Varianten für die Aufteilung der neuen Bundestagswahlkreise aus. Mit einer überraschend klaren Präferenz, wie aus dem Schriftwechsel mit der Wahlkreiskommission hervorgeht.
Statt die Wahlkreise für das Abgeordnetenhaus heranzuziehen, schlug Rockmann vor, die sogenannten "Lebensweltlich orientierten Räumen" als Grundlage zu nutzen. Die "LOR" werden seit 2006 in der Stadtplanung genutzt und definieren kiezgenau Gebiete, in denen die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Einwohner:innen sehr ähnlich sind. Das sei, schreibt Rockmann, sei viel geeigneter als Grundlage für die neuen Bundestagswahlkreise.
Das letzte Wort hat der Bundestag
Die Wahlkreiskommission, die vom Bundespräsidenten einberufen wird und unabhängig arbeitet, sah das offenbar anders. Bis Dienstag konnten alle im Bundestag vertretenen Berliner Parteien ihre Stellungnahmen dazu abgeben. Bis Ende November soll das auch der Senat tun. Die Endgültige Empfehlung der Wahlkreiskommission muss bis 26. Januar 2023 an den Bundestag übermittelt werden. Ob und wie sie umgesetzt wird, entscheiden letztlich die Abgeordneten.
Auf die teilweise Wiederholung der Bundestagswahl, wie sie zuletzt beschlossen wurde, hätte all das keine Auswirkung: Die müsste in den Grenzen der 2021 gültigen Wahlkreise durchgeführt werden.
Wahlkreise werden immer wieder neu definiert
Dass die Wahlkreise für den Bundestag regelmäßig überprüft und verändert werden, ist laut Bundeswahlgesetz vorgeschrieben. Denn die Bevölkerung innerhalb eines Wahlkreises darf nicht zu groß oder zu klein sei im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt der anderen Wahlkreise. So wurden vor der Bundestagwahl 2021 zum Beispiel 13 Wahlkreise in ganz Deutschland wegen der veränderten Einwohnerzahl neu gezogen, darunter zwei in Brandenburg. Aktuell liegt der Schnitt bei rund 243.500 Einwohner:innen pro Wahlkreis. Das erklärt auch, warum das bevölkerungsreiche Nordrhein-Westfalen aktuell 64 Wahlkreise hat, der Stadtstaat Bremen hingegen nur zwei.
Sendung: Inforadio, 30.11.2022, 6 Uhr