Gewaltausbrüche in der Unterbringung - Mitarbeiter des Berliner Kindernotdienstes schlagen Alarm

Do 02.03.23 | 08:33 Uhr | Von Kirsten Buchmann
  27
Archivbild: Das Gebäude des Kindernotdienstes Berlin in Kreuzberg. (Quelle: dpa/S. Kugler)
Audio: rbb24 Inforadio | 02.03.2023 | Kirsten Buchmann | Bild: dpa/S. Kugler

Bei Gewalt zu Hause sollen Mädchen und Jungen Schutz im Kindernotdienst finden. Beschäftigte warnen allerdings, sie dort nicht immer vor Gewalt Älterer schützen zu können. Eine Gefährdungsanzeige liegt dem rbb exklusiv vor. Von Kirsten Buchmann

Ein Backsteingebäude in Berlin-Kreuzberg. Eine weiße Hand auf rotem Grund an der Außenmauer weist auf den Kindernotdienst hin. Bis zu zehn Null- bis 13-Jährige können hier unterkommen, wenn sie zu Hause akut gefährdet sind.

Immer wieder eskaliert laut Beschäftigen die Situation aber selbst im Kindernotdienst. Beschrieben ist das auch in einer Gefährdungsanzeige, die im Januar an die Senatsjugendverwaltung adressiert wurde und dem rbb vorliegt – eine Art Alarmsignal von Mitarbeiterseite.

Kein Schutzraum

Ein Betreuer versuchte demnach mit einem einjährigen Mädchen und einer Sechsjährigen, einen Turm zu bauen. Ein 13-Jähriger zielte mit Tritten auf den Kopf der Einjährigen, und als der Betreuer sie hochnahm, auf den Kopf der Sechsjährigen. Sie habe sich unter den Esstisch zurückzogen und geweint. Als sie nicht aufgehört habe zu weinen, habe der Junge den Küchentisch über den Kopf des Mädchens geworfen. "Die Sechsjährige lief erschrocken und weinend zu mir und versteckte sich hinter meinem Rücken, hinter mir mit der Einjährigen auf dem Arm."

Die Situation sei "exemplarisch für die Gefährdung, die seit ein paar Jahren permanent und zunehmend im Kindernotdienst besteht", steht in der Gefährdungsanzeige. Solche und ähnliche Situationen seien Alltag geworden.

Das bestätigte dem rbb ein Mitarbeiter, der seinen Namen nicht nennen will, weil er sich nicht öffentlich äußern darf. Der Kindernotdienst sei gesetzlich verpflichtet, die Kinder aus Gewaltsituationen bei den Eltern herauszuholen und in Sicherheit zu bringen. "Jetzt kommen die kleinen Kinder aus Gewaltsituationen in den Notdienst und erleben dort Gewalt, weil die Kinder, die dort lange sind, sich nicht mehr anders ausdrücken können."

Mädchen nahm Drogen

Bereits vor einem Jahr warnten Kindernotdienst-Mitarbeiter, sie könnten aufgenommene Kinder nicht vor der gewaltvollen Atmosphäre schützen. Konkret schilderten sie, ein Junge habe mit der Hand eine Scheibe eingeschlagen, sodass ein Notarzt gerufen werden musste. Als dieser da gewesen sei, sei ein Mädchen zusammengebrochen, das nach eigener Auskunft Drogen genommen habe.

In einem zweiten Schreiben aus dem Dezember heißt es, 18 Kollegen und damit 60 Prozent der Beschäftigten seien wegen Krankheit oder Urlaub nicht arbeitsfähig.

Komplexer Hilfebedarf

Angesichts des komplexeren Unterstützungsbedarfs und längerem Aufenthalt der Kinder werde geprüft, ob mehr Personal nötig sei, lautete eine Reaktion aus der Jugendverwaltung des Senats.

Im vergangenen Jahr gab es im Kindernotdienst insgesamt 392 Inobhutnahmen von Kindern im Alter von null bis 13 Jahren. Die zehn Plätze waren der Jugendverwaltung zufolge im Schnitt mit acht Kindern besetzt.

Gedacht ist der Kindernotdienst für einen kurzen Aufenthalt von bis zu drei Tagen. Die Jugendverwaltung räumt ein: Im Schnitt bleibt ein Kind siebeneinhalb Tage. Einzelne sind Kindernotdienst-Beschäftigten zufolge sogar mehrere Monate oder ein halbes Jahr da. Denn in Jugendeinrichtungen finde sich für sie kein freier Platz. In der neuen Gefährdungsanzeige heißt es dazu: Kinder "erleben das als perspektivloses Zwischengeparktsein und von niemandem Gewolltsein."

Unbesetzte Stellen

Das beantworteten sie, je länger sie da seien, immer häufiger mit Gewalt gegen andere Kinder, gegen die Beschäftigten und sich selbst. Die Folge ist, so der Mitarbeiter, dass manche kündigen: "Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass jemand in meinem Dienst stirbt. - Das ist ein O-Ton von Kollegen, die den Kindernotdienst bereits verlassen haben."

Laut der Jugendverwaltung sind von 33,5 Stellen im Betreuungs- und Kriseninterventionsbereich des Kindernotdienstes eine Erzieher-, und zwei befristete Pflegestellen offen, außerdem eine Hauswirtschaftsstelle. Sie sollen ihr zufolge zeitnah nachbesetzt werden. Bei hohen Krankenständen übernähmen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter anderer Bereiche Dienste im Kindernotdienst. Weitere Unterstützung für ihn gebe es unter anderem durch den Drogennotdienst oder Konflikttraining.

Kindernotdienst-Mitarbeiter hoffen dringend, dass sich an ihrer Situation bald etwas ändert. Denn fehlen die Krankenschwestern, müssen andere Beschäftigte Kleinkinder wickeln oder aus der Psychiatrie entlassenen Großen Medikamente geben, die sie nicht einnehmen wollen. Auch das schildern Mitarbeitende. Hilferufe aus einer Einrichtung, die Kindern helfen soll.

Sendung: rbb24 Abendschau, 02.03.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Kirsten Buchmann

27 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 27.

    Was ein "Berliner:_*innen" so alles befürchtet oder sich vlt. sogar erhofft, auf dass es bald möglichst zum "großen Knall" kommt und Deutschland endlich aufwacht, ist schon milde unterhaltsam.

  2. 26.

    Na mit der CDU jetzt werden natürlich sofort alle Gehälter verdreifacht damit die unbesetzten Stellen besetzt werden, wa? Oder die CDUler arbeiten einfach ehrenamtlich neben der Senatsarbeit auch noch als Sozialarbeiter. Wär doch mal was!

  3. 25.

    Tja you get what you wählst, mal schauen ob die linksgrünen traumfänger langsam aus ihrer bubble erwachen und der Realität ins Auge sehen.
    Ich befürchte aber dass es so lange weitergeht bis der Staat komplett zusammengebrochen ist :(

  4. 24.

    Letztlich wird sich an den aktuellen Zuständen in diesen Einrichtungen nichts ändern.

    Die Kommunen werden in den nächsten Jahren deutlich weniger Geld zur Verfügung haben. Daher ist nicht an mehr Personal zu denken

    Die Zahl der Steuerzahler sinkt in den nächsten Jahren drastisch

  5. 23.

    Es ist zutiefst erschütternd, daß wir mittlerweile mehr Arbeitskräfte im Bereich Sozialpädagogik und Erziehung haben als Lehrkräfte. Warum müssen so viele Menschen Kinder in die Welt setzen, die mit diesen Kindern überfordert sind, diese Kinder nur mißhandeln usw. usf. Was allein das für Kraft bindet. Das hat nichts mit einem Senat zu tun, auch nicht einer ungeliebten Regierung, das hat allein mit den ErzeugerInnen zu tun. Diese geschundenen Kinder werden nie wieder gesund.

  6. 22.

    Sehr traurig, dass Kinder und Jugendliche, die Gewalt und Verwahrlosung erleben, nicht mehr richtig aufgefangen werden können in unserem Sozialsystem. Als Vormundin eines unbegleiteten geflüchteten Jugendlichen, war ich vor gut sieben Jahren froh, dass es diese Einrichtungen gab. Auch damals schon war die Jugendsozialarbeit allerdings auf Kante genäht.

  7. 21.

    Sie haben völlig Recht. Die Schwierigkeit liegt auch darin, dass es für das Jugendamt oder den sozialen Dienst schwer ist zu erkennen wo liegen akute Probleme vor. Viel zu oft reagierte der soziale Dienst, weil falsche Anzeigen etc. getätigt werden. Familien die tatsächlich Hilfe benötigen fallen durch das Raster, auch weil Kindergärten und Schulen gar nicht gehört werden bei Problemen.

  8. 20.

    Ich wüsste nicht, was an der Sozialpolitik der SPD sozial sein soll.

  9. 19.

    "Schuld ist letztlich der Senat." SCHULD sind erstmal die Eltern, die nicht in der Lage sind, Uhren Kindern ein ordentliches, sicheres Zuhause zu geben. Außerdem geht es hier nicht um die Schulfrage, sondern um ein schwerwiegendes Problem, das zu lösen ist. Ihr ewiges "der Senat" macht nichts besser!

  10. 18.

    "Wenn so viele Mitarbeiter krank sind, hat der Arbeitgeber das Recht, Urlaubssperre anzuordnen" das verlagert doch das Problem nur: 1. werden die gesunden MA noch mehr belastet und 2. müssen die ja irgendwann ihren Urlaub bekommen, wer weiß denn, wann die Kranken zurück kommen?

  11. 17.

    Die Problematik ist vielmehr, dass Kinder in meist ganz offensichtlich prekären Elternhäusern so lang belassen werden, bis die Kinder entsprechend „sozialisiert“ sind.
    Häufig wird, verursacht durch die wenig unterstützende Rechtssprechung in solchen Fällen, eher auf Erziehungshilfe/Familienhilfe gebaut, die aber natürlich nicht Tag und Nacht da sein kann. Da lässt sich schon nach wenigen Jahren kaum noch etwas richten. Ein Kind, das seinem Kuschelhasen mit einer Schere den Kopf abschneiden will, ist mehr als unheimlich. Das führt zu Kinder in Wohngemeinschaften, die Angst vor dem Diebstahl ihrer Sachen durch ältere Kinder haben und deshalb Geschenke nicht mit nach Hause nehmen wollen. Straftaten begehen, Gewalt erleben und/oder ausüben, wenn Erzieher gerade nicht hinschauen (können), weil sie erst dann dazu gehören und nicht dauernd das Opfer dort sind. Die dann lieber wieder nach Hause wollen, wo es nicht besser ist, sie aber die Verhältnisse kennen.

  12. 16.

    Der alte Schlag stirbt aus, ich stimme ihnen zu. Danke für Ihren Einsatz, das meine ich ernst.

    Aber Probleme ignorieren bringt nichts.

  13. 15.

    Warum kommen Kinder so häufig in solche Gwaltsituationen? Jeder sollte auf den anderen achten und evtl. überforderten Eltern Hilfe anbieten, damit schon frühzeitig geholfen werden kann. Wenn es die Kinder von zu Hause nicht anders lernen, was wird aus ihnen als Erwachsene?

  14. 13.

    Tolle Idee. Der Urlaub dient den Arbeitenden zur Erholung. Wenn jetzt auch noch der Urlaub gestrichen wird, obwohl dieser unter solchen Bedingungen sicherlich dringend erforderlich ist, was passiert dann wohl? Dann geht man zum Arzt und lässt sich krank schreiben und der Urlaub kommt dann noch on top.

  15. 12.

    Kinder haben eben schon lange keine Lobby mehr in dieser Stadt weil sie Geld kosten und man sich nicht mit ihnen brüsken kann.
    Da sind unsinnige Radwege, Straßensperrungen, Genderschwachsinn, Bauprojekte (z.B. BER und Tegel) und Klima-Aktivisten eindeutig mehr im Fokus der Öffentlichkeit.

    Es ist nicht nur die Sicherheit unserer Kinder, die immer mehr abwärts geht, sondern auch deren Bildung. Es wird nun seit mindestens einem Jahrzehnt bemängelt, dass es nicht genug Lehrer hier gäbe. Es will sie aber auch keiner bezahlen! - Genauso ist es bei den Notunterkünften für Kinder.

  16. 11.

    Nein, hat er nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen und die sind hier bei weitem nicht gegeben. Es fehlt Personal!

  17. 10.

    Es geht nicht nur um mehr Personal im Kinder- und Jugendnotdienst, sondern um die gesamten Jugendhilfestrukturen in der Stadt. Es fehlen Plätze für Kinder und Jugendliche, die nicht zu Hause leben können in Einrichtungen. Selbst Babys bekommen da für Tage keinen Platz. Die Einrichtungen der freien Träger sind aufgrund von Personalmangel intensiv zu betreuenden Kindern überfordert. Die Sozialarbeiterinnen in den Jugendämtern, in den dortigen Krisendiensten, sind zu schlecht besetzt. viele hören auf, weil sie den Stress nicht aushalten. Wie im Notdienst. Ein hochverantwortung voller Job, mittelmäßig bezahlt. Der Bedarf in der Jugendhilfe steigt an, auch aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Probleme. Vieles wird auf dem Rücken der bedürftigen Kinder ausgetragen. Davon kann man im Kindernotdienst ein Lied singen....

  18. 9.

    Sie verwechseln da die Verwaltungen. Frau Busse ist dafür zuständig - Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie.

  19. 8.

    Solange die Abgeordneten ihre Diäten erhöhen und jede Spitzenposition ihre Pfründe sichert...solange schön uber die faulen Sozialarbeiter, Erzieherinnen und Leher lästern,.

  20. 7.

    Was die Mitarbeiterinnen des Kinder- und Jugendnotdienst leisten und die Kinder und Jugendlichen aushalten müssen ist unglaublich. Die Notdienste entwickeln sich immer mehr zu einem Sammelbecken für sogenannte "gescheiterte Jugendhilfekarrieren". Kinder mit multiplen Problemen wie Traumatisierung, massiven Verhaltensauffälligkeiten, hohem psychiatrischen /therapeutischen Bedarfen finden in dieser Stadt kaum geeignete Einrichtungen. Für Kinder u. Jug. mit geistigen oder körperlichen Behinderungen gibt es in Berlin keine einzige spezialisierte Krisengruppe! Das sind Kinder, die dringend eine 1:1 Betreuung brauchen. Für eine Gruppe von 10 Kindern, 0 bis 13 , davon z.B. 1 Baby, 3 Kleinkinder, 3 Kinder, die gerade aus der Psychiatrie kommen, 1 Kind mit 80% geistiger Behinderung usw. Dafür sind 2 Erzieh. gedacht. Das ist zu wenig. Es muss ständig um kurzfristig zusätzliche Betreuung gekämpft werden, was häufig nicht gelingt. Mehr Personal ist notwendig, um Kinder in Krisen gerecht zu werden

  21. 6.

    Aktuell liegt das noch in der Verantwortung der Berliner Sozialsenatorin Katja Kipping. Hat jemand Sie gesehen oder etwas dazu von ihr gehört? Hier müsste man doch mal Präsenz zeigen statt immer nur schön zu reden, nicht wahr?

  22. 5.

    Wenn man diesen Artikel liest stehen einem die Nackenhaare hoch und von den Verantwortlichen liest man nur Statik Zahlen wie traurig was soll aus diesen Kindern mal werden. Meiner Meinung nach ist hier der Staat gefordert diesen Kindern eine ordentliche Zukunft zu bieten in geregelten Lebensumständen mit Lebensqualität.

  23. 4.

    Und zukünftig wird noch weniger Geld zur Verfügung stehen.

    Wenn so viele Mitarbeiter krank sind, hat der Arbeitgeber das Recht, Urlaubssperre anzuordnen

  24. 3.

    Eine unzumutbare Situation für Beschäftigte und Betreute. Mich würde interessieren , ob die Situation sich erst massiv verschlimmert hat seit die Kolleg*innen der Notdienste (betrifft ja den KND und den JND) nicht mehr dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zugeordnet sind, sondern der Senatsverwaltung zugeschlagen wurden. Vielleicht kann der rbb da mal nachhaken. Auch im Sinne der Diskussionen um Verwaltungsreformen und mehr Macht den SenVerw. Danke

  25. 2.

    @ Brauner
    Werter Brauner, wissen Sie, wovon Sie da schreiben? Oder wollten Sie nur mal wieder was gegen "links" loswerden? Ich habe rund 40 Jahre in diesem Beruf gearbeitet und kann Ihnen versichern, dass der hohe Krankenstand wenig bis nichts mit "Faulheit", sondern mit der enormen psychischen (und manchmal, bei Heranwachsenden, auch körperlichen)Belastung dieses Berufs zu tun hat. Dazu kommt, im Heimbereich, Wechselschicht und natürlich Krankheitsvertretung. Ich hatte mal eine Woche durchgehend, Tag und Nacht, alleine Dienst. Ich war jung, ich hab' s geschafft, aber in den letzten 10 Berufsjahren wurde die Belastung immer mehr, bis es, mit 64, nach längerer Krankheit, nicht mehr ging. Was machen Sie denn so beruflich?

  26. 1.

    Schuld ist letztlich der Senat.
    Es wird sich lieber um Fahrradwege und Genderfragen gekümmert.

Nächster Artikel