Heimatlose Ukrainer - "Ich muss nützlich sein – für die Ukrainer, aber auch für die deutsche Gesellschaft"

Eine Unternehmerin aus Bachmut, ein Sozialarbeiter aus Mariupol, eine NGO-Chefin aus Cherson: Geflüchtete aus dem Südosten der Ukraine engagieren sich in unserer Region, während über ihre Heimat verhandelt wird. Doch diese Menschen haben Hoffnung. Von Juan F. Álvarez Moreno
"Ich weiß leider nicht, ob der Krieg in zwei Wochen beendet wird", sagt Hanna Petrychenko. "Wir leben einfach im Jetzt. Jeden Tag tue ich das, was ich tun kann." Die 46-jährige Unternehmerin aus der ukrainischen Region Donbass lebt seit fast drei Jahren in Berlin. Für sie – wie für viele Ukrainer aus den von Russland besetzten Gebieten – hat der Angriffskrieg ihr Leben komplett verändert: ein neues Land, eine neue Sprache, ein neuer Job. Was geblieben ist: die Angst.
Denn der 24. Februar vor drei Jahren bedeutete zwar für die meisten Menschen einen großen Schock – wieder ein Krieg in Europa. Doch Petrychenko wurde schon Jahre zuvor gewarnt: 2014 musste sie aus Horliwka, einer Großstadt nördlich von Donezk, fliehen, als diese von prorussischen Kämpfern eingenommen wurde. Dann wohnte sie acht Jahre lang in Bachmut.
"Ich war Unternehmerin und hatte ein Online-Geschäft dort", sagt sie. Unter anderem habe sie Babytragen und Thermokleidung für Kinder und Erwachsene hergestellt. Als 2022 der große Krieg begann, musste sie sich davon verabschieden und nach Berlin fliehen. Ein Jahr später wurde Bachmut zum Schauplatz der verlustreichsten Schlacht in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
"Die Russen kamen immer näher"
Als Bachmut noch stand, organisierte Petrychenko zusammen mit anderen Unternehmern eine Art Verband, der auch als Hilfsorganisation fungierte. "Die Russen kamen immer näher, aber wir wollten die Wirtschaft und das Leben der Menschen im Donbass und Luhansk verbessern." Die von ihr geleitete Organisation gab Geräte wie Nähmaschinen und Computer an Schulen, um die Bildung der Kinder zu unterstützen. Dann kamen die Flucht und ein neues Leben.
Ihr soziales Engagement hat Petrychenko in Berlin fortgesetzt. Warum sie das tut? "Ich muss hilfreich und nützlich sein – für die Ukrainer, aber auch für die deutsche Gesellschaft." Als Mitglied des Vereins Cinemova arbeitet sie als Mediatorin für Menschen aus der Ukraine, organisiert Seminare und Kommunikationstrainings. "Als Mediatorin helfe ich bei einer Verhandlung zwischen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten", erklärt sie.
Dabei sei ihr sehr wichtig, dass Kommunikation gewaltfrei stattfindet. "Viele Ukrainer haben Gewalt erlebt und leiden deswegen täglich unter Stress." Vor allem Frauen mit Kindern würden teilnehmen – von ihnen bekomme sie positives Feedback. "Bei meinem Job habe ich eins gelernt: Wenn jeder Mensch wüsste, welche Ressourcen, Energie und Lebensfreude in ihm stecken, dann hätten wir eine bessere Gesellschaft."

Sie hat sich bereits selbständig gemacht
Petrychenko wohnt mit ihrer 15-jährigen Tochter und ihrem 18-jährigen Sohn in einer Mietwohnung in Prenzlauer Berg. "Unser Haus in Bachmut wurde zerstört. Das macht mich sehr traurig. Manchmal schauen wir uns Bilder aus dieser Zeit an – das ist für meine Kinder sehr berührend." Ihr Mann sei noch in der Ukraine. Ihre Mutter ebenso. Sie lebt in einem der besetzten Gebiete, weshalb sie keinen regelmäßigen Kontakt miteinander haben könnten.
In der deutschen Hauptstadt will die Ukrainerin erst einmal ihr Leben verbessern, auch deswegen hat sie Deutsch gelernt. Das "multikulturelle Berlin" sei für sie sehr interessant. Hier habe sie sich auch selbstständig gemacht. "Viele meiner alten Kunden aus der Ukraine fragen mich, ob ich mein Geschäft wieder aufmachen will." Ob sie den unternehmerischen Neustart aus Berlin wagen will, wisse sie noch nicht. Aber sie wolle sich auf jeden Fall weiterentwickeln.
25-Jähriger aus Mariupol will älteren Ukrainern helfen
Als "Neustart" kann man die vergangenen Jahre im Leben von Serhii Morzhov beschreiben. Der 25-Jährige kommt aus Mariupol, eine Stadt, die die russische Armee völlig zerstört hat. Im Frühling 2022 gelangte er nach Berlin, wo er seitdem bei einer Gastfamilie wohnt. Wenn man ihn fragt, was er von den Verhandlungen zwischen Trump und Putin zur Zukunft seiner Heimat hält, fallen ihm vor allem Schimpfwörter ein. Für den 25-Jährigen steht fest: "Ich würde nur in ein ukrainisches Mariupol zurückkehren, niemals in ein russisches. Und ich habe Hoffnung, dass es passieren kann."
In der Ukraine habe er sich bei einem Sozialprojekt engagiert, das unter anderem Prostituierte oder Menschen mit HIV unterstützte, sagt Morzhov. Diese Erfahrung motiviere ihn, sich auch hier sozial zu engagieren: "Als ich kam, hatte ich Angst, hier für die Gesellschaft nutzlos zu sein." Er habe in der Ukraine gefühlt, dass er etwas verändern konnte. Hier musste er erst einmal seine Rolle finden. Geholfen habe ihm ein Hilfeprogramm der Deutschlandstiftung Integration.

Der junge Mann aus Mariupol will in Berlin ein Sozialprojekt für ältere Geflüchtete aus der Ukraine starten. "Es gibt viele ältere Ukrainer hier, die kein Deutsch sprechen. Ich möchte, dass sie soziale Kontakte knüpfen und auch eine Brücke zur jüngeren Generation bauen." Für das Projekt fehle vor allem noch das Geld, aber er habe bereits einige Workshops organisiert, darunter einen Nähkurs und eine Gesprächsrunde für ältere Menschen. Künftig wolle er auch gemeinsam mit ihnen Kunst machen. Denn das sei auch seine Leidenschaft.
Aus Schmerz wird Kunst
"Vor einigen Tagen habe ich eine Collage über Mariupol gemacht", sagt Morzhov. "Dabei geht es um Schmerz. Man sieht Straßenhunde und auch viel Rauch." Für ihn fühle sich diese Erinnerung an seine Heimatstadt fast wie ein surreales Computerspiel an – denn die echte Zerstörung seiner Stadt erlebte er nur als Geflüchteter aus der Ferne. "Als der Krieg startete, fühlte ich Schmerz und viel Druck. Mir war bewusst, dass ich nichts tun konnte und mein Leben nun ein anderes war."
Am 24. Februar 2022 sei er in der Hauptstadt Kyjiw gewesen, seine Mutter noch in Mariupol. Er habe tagelang nichts von ihr gehört. Sein sechsstöckiges Mehrfamilienhaus wurde zum Teil von Bomben zerstört, viele Leute starben, wie er erzählt. "Meine Mutter war in diesem Gebäude und überlebte das. Sie schlief in der Badewanne, machte Feuer im Flur und kochte dort." Erst im August schaffte sie es nach Deutschland. Hier sei sie wegen einer Augenkrankheit operiert worden. "Sie ist sehr dankbar für die Hilfe, die sie in Deutschland bekommt."
Ob Berlin seine neue Heimat ist? "Ich liebe diese Stadt. Aber ich weiß nicht, ob ich es mein Zuhause nennen kann", sagt Morzhov.
"Wir helfen ukrainischen queeren Menschen hier in Deutschland"
Auch in Brandenburg engagieren sich viele der Zehntausenden ukrainischen Geflüchteten in sozialen Projekten. Eine von ihnen ist die 46-jährige Maryna Usmanova. Die studierte Psychologin lebt in Frankfurt (Oder) und ist Vorstandsmitglied des Vereins KwitneQueer, der auch in Berlin und anderen Orten aktiv ist. "Wir helfen ukrainischen queeren Menschen hier in Deutschland. Wir ermöglichen einen sicheren und offenen Austausch, beraten queere Menschen, bieten ehrenamtliche Dolmetscher."
Diese Hilfe bräuchten viele, sagt Usmanova. So sei es zum Beispiel manchmal notwendig, dass eine Begleitung dabei ist. Etwa, wenn eine Transperson zu einem Arzt muss, bei dem man sich nicht sicher ist, ob er transfeindlich gesinnt ist. Auch bürokratische Hilfe sei gefragt: "Für trans Leute in der Ankunftsstelle in Tegel besorgen wir entsprechende Papiere, sodass zum Beispiel eine Transfrau nicht in einem Raum mit acht Cis-Männern schlafen muss."

Ihre Heimat liegt an der Front
In ihrer Heimatstadt Cherson leitete Usmanova zehn Jahre lang eine queer-feministische Organisation. Die Stadt fiel 2022 wenige Tage nach Kriegsbeginn unter russische Kontrolle. Ihr gelang kurz davor die Flucht. Während der russischen Besatzung arbeitete die Organisation in Cherson trotzdem weiter – damit waren viele Risiken verbunden. "Ein offen schwules Organisationsmitglied hat zwei Monate in einem Keller verbracht und wurde gefoltert", sagt Usmanova.
Cherson wurde von der ukrainischen Armee zurückerobert, liegt aber nun direkt an der Front. Immer wieder wird die Stadt von russischen Bomben getroffen. Usmanova besitzt dort ein haus mit Garten. Ein sicherer Ort, an den sie zurückkehren würde, ist es für sie nicht. Auch nicht, wenn der Krieg eingefroren wird. "Wenn sie eine Stadt bleibt, in der jederzeit ein Krieg wieder aufbrechen könnte, dann sehe ich es als großes Risiko für mein Leben."
Soziales Engagement sei ihr Widerstand
In Frankfurt lebt sie mit ihrem Kind und mit zwei trans Menschen. "Meine Familie", sagt sie. Die Stadt an der Oder gefalle ihr besser als Berlin: "Sie ist ruhig und sauber. Frankfurt erinnert mich an Cherson, die auch keine große Stadt war. Das Einzige, was mir hier nicht gefällt, sind die Märsche mit AfD-Flaggen, wo aufgerufen wird, die Hilfe für die Ukraine zu streichen. Aber ich muss damit leben."
Motivation für ihre ehrenamtliche Arbeit finde sie drei Jahre nach Kriegsbeginn vor allem in ihrer Familie, sagt Usmanova, aber auch in der queeren Community, in der viele junge Menschen auf ein besseres Leben hoffen würden. "Wenn in der Welt gerade viel Schlimmes passiert, dann ist das meine Form des Widerstands: Ich tue etwas Gutes."