Erst Hausarzt, dann Facharzt - Koalitionspläne für neues Arztsystem stoßen auf Kritik

Di. 22.04.25 | 06:11 Uhr | Von Anja Herr & Yasser Speck
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Symbolbild:Eine Ärztin gibt einer Patientin einen Zettel.(Quelle:imago images/Panthermedia)
Video: rbb24 Abendschau | 22.04.2025 | Lion Talir & Eugen Brysch (Deutsche Stiftung Patientenschutz | Bild: imago images/Panthermedi

Erst zum Hausarzt, dann zum Facharzt – so stellen sich Union und SPD künftig Arztbesuche vor. Ein sogenanntes Primärarztsystem soll für mehr Ordnung sorgen. Doch viele warnen: Das könnte die Versorgung eher verschlechtern. Von A. Herr und Y. Speck

Wer heute zum Orthopäden, zum Hals-Nasen-Ohrenarzt oder einer anderen Fachärztin möchte, kann dort direkt einen Termin buchen – ohne vorher beim Hausarzt gewesen zu sein. Das könnte sich bald ändern. Denn Union und SPD schlagen im Koalitionsvertrag ein sogenanntes Primärarztsystem vor.

Das bedeutet: Wer zum Facharzt möchte, muss zuerst zur Hausärztin gehen. Die Hausärztin stellt dann – bei Bedarf – eine Überweisung an den Facharzt aus. Die Parteien erhoffen sich dadurch eine bessere Patientenkoordinierung und schnellere Termine bei Fachärzten. Kritiker warnen hingegen vor einer Überforderung der Hausärzte und sehen Nachteile für die Versorgung von Patientinnen und Patienten.

Patientenschützer kritisieren Pläne

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, hält wenig vom Vorschlag von Union und SPD: "Es wird dazu führen, dass wir jetzt zwei Mal warten dürfen. Einmal beim Hausarzt und das nächste Mal beim Facharzt."

Brysch betont, dass Hausarztpraxen in Berlin und Brandenburg oft keine neuen Patientinnen und Patienten mehr aufnehmen würden. Außerdem hätten viele Menschen gar keinen Hausarzt mehr. Müssten alle den Umweg über die ohnehin schon vollen Hausarztpraxen nehmen, hätte das Nachteile. "Das wird immer zu Lasten derjenigen gehen, die heute schon zu dem jeweiligen Hausarzt gehen", so Brysch.

Sorge vor Überforderung der Praxen

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung ist der Dachverband der einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen. Ihr Vorstandsvorsitzender Andreas Gassen kritisiert die Pläne von Union und SPD ebenfalls. "Aktuell würde das dazu führen, dass die hausärztlichen Praxen sich doppelt so viele Patienten anschauen müssten wie bisher."

Es sei schlicht nicht machbar, alle 73 Millionen Kassenpatienten durch das hausärztliche System zu schleusen. "Wir würden das System der hausärztlichen Praxen überfordern." Außerdem würden sich logistische Fragen stellen. "Wenn Menschen in einem Flächenland wie Brandenburg eine hausärztliche Praxis aufsuchen müssen, die 50 Kilometer südlich entfernt ist und dann eine fachärztliche Praxis aufsuchen, die 50 Kilometer nördlich entfernt ist, dann müssen sie vorher getankt haben. Sonst wird das schwierig", sagt Andreas Gassen.

Hausärzte-Verband begrüßt Primärarzt-Pläne

Einer, der diesen Vorschlag dann in die Tat umsetzen müsste, ist der Berliner Hausarzt Ilker Aydin. "Natürlich erwarten wir dann einen größeren Zustrom von Patientinnen und Patienten, die einen Facharzttermin haben wollen und über uns gehen müssen. Das bedeutet für uns mehr Arbeit", so Aydin. Dennoch sei er bereit, das vorgeschlagene System auszuprobieren. "Offensichtlich ist da etwas aus dem Ruder gelaufen." Er meint die hohen Kosten für Facharztbehandlungen und die langen Wartezeiten auf Termine.

Mit dieser Meinung ist er nicht allein. Auch der Hausärzte-Verband Berlin und Brandenburg e.V. begrüßt die Pläne im Koalitionsvertrag. "Wir haben lange dafür gekämpft, dass endlich die hausärztliche Primärversorgung ihren Weg findet", sagt die Vorsitzende Doris Höpner. Die medizinische Versorgung sei qualitativ besser, wenn Hausärzte und Hausärztinnen die Menschen ganzheitlich betreuen – und sie nicht nur punktuell von Fachärzten behandelt werden.

"Ich erhoffe mir, dass die Lotsen- und Steuerungsfunktion der Hausärzte auch dazu führt, dass unnötige Patientenkontakte vermieden werden", so Höpner. Die Wartezeiten auf Facharzttermine würden geringer - für diejenigen, die einen Arztbesuch wirklich brauchen.

Offenbar ist etwas aus dem Ruder gelaufen.

Aydin Ilker, Hausarzt in Berlin


Aktuell keine Überweisungspflicht

Die Pflicht zur Überweisung beim Besuch von Fachärzten wurde in Deutschland zum 1. Januar 2009 im Rahmen des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes weitgehend abgeschafft. Ziel war es damals, die Patientenfreizügigkeit zu stärken und den Zugang zur fachärztlichen Versorgung zu erleichtern. Die Maßnahme war Teil einer umfassenden Gesundheitsreform unter der damaligen Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD.

Allerdings wurde die freie Arztwahl auch kritisiert – unter anderem wegen steigender Kosten und einer zunehmenden Zahl unnötiger Facharztbesuche. Genau diese Entwicklungen sind nun ein Argument für die Rückkehr zur Überweisungspflicht im Rahmen eines Primärarztsystems.

Wann und ob das neue System kommt ist noch offen

Noch ist unklar, wann und ob es überhaupt zu dem Primärarztsystem kommt. Der entsprechende Vorschlag steht im Koalitionsvertrag von Union und SPD, über den derzeit abgestimmt wird. Die SPD lässt ihre Mitglieder noch bis zum 30. April darüber entscheiden. Erst danach wird man wissen, ob diese Koalition ihre Arbeit aufnehmen wird. Wann das Primärarztsystem dann auf der Agenda steht, ist noch offen

Sendung: rbb24 Abendschau, 22.04.2025, 19:30 Uhr

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Beitrag von Anja Herr & Yasser Speck

81 Kommentare

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  1. 81.

    Na das ist ja wunderbar, erst auf einen freien Termin beim Hausarzt warten und anschließend noch länger auf den Facharzt.
    Wo soll das gehen?

  2. 80.

    Warum so viel Aufregung?
    1.: Für einen Zahnarztbesuch benötigt man keine Überweisung vom Hausarzt. Dieses Beispiel, das hier einige u. a. anführen, ist also nichtig.
    2.: Wenn ich auch nur ein einziges Mal als Patient bei einem Facharzt war und somit in dessen Kartei bin, kann ich diesen beliebig ohne weitere Überweisung aufsuchen.
    3.: Für die Ausstellung eines Arzneimittelrezeptes beim Facharzt benötige ich ebenfalls keine erneute Überweisung.
    Also, warum so viel Aufregung?

  3. 79.

    Doch ich hätte da eine Idee, weil ähnliches hatten wir schon. Wer keine Überweisung vom Hausarzt hat und auch nicht chronisch Krank ist(Ausnahme diejenigen die chronisch Krank sind und die regelmäßige Hilfe beim Facharzt benötigen), zahlt eine Straf-Gebühr beim Facharzt ohne Überweisung, von 10.-€.
    Damals war es anders herum. 10.- € pro Quartal waren beim Hausarzt fällig. Da dabei die Hausärzte mit der Abrechnung bei dem Krankenkassen dermaßen überlastet waren, lies man das wieder fallen.
    Für einige Fachrichtungen sollte es aber nach dem "Neuen" System Ausnahmen geben z.B. Kinderarzt o. Frauenarzt
    (Damit Frau nicht jedes mal wenn sie die Pille braucht zu 2 Ärzten muss.

  4. 78.

    In den Niederlanden existiert Überweisungspflicht. Manchmal ist die total überflüssig. Oder sogar schädlich wenn der Hausarzt eine Krankheit falsch beurteilt.

  5. 77.

    Solange Fachärztekapazitäten auch nur an Privatversicherte angeboten werden können, gibt es keine gute Lösung. Wenn wir schon zu erst zum Hausarzt müssen, dann kann er ja statt Überweisung gleich einen Termin ausmachen. Statt Terminausgabe für Privatversicherte binnen zwei Wochen, für gesetzliche aber erst nach drei Wochen, könnte so ein first in first out Vergabesystem zustande kommen.

  6. 76.

    Wohne in einer Stadt, in der mind. 12 Hausärzte fehlen und auch die KK nicht in der Lage war, einen zu vermitteln. Davor hatte ich eine HÄ, die - wie demnächst viele - in Rente sind. Und auch dort war nur Abwimmeln Programm statt zu behandeln. Es wird so lange verschleppt bis nur noch Akutfälle die Krankenhäuser überschwemmen. Qualitativ ist die HA-Behandlung in den letzten 6 Jahren extrem schlecht geworden. Das Wissen ist nicht aktuell, Coronafolgen werden immer noch geleugnet, Hochbetagte bekommen keine Medikamente mehr (die sie jahrelang erhielten), Hausbesuche werden nicht mehr durchgeführt, Patienten selbst im Wartezimmer gefragt, ob sie dringend zur HÄ müssen - obwohl kein anderer Patient im Wartezimmer sitzt und selbst bei einer Bronchitis nicht mal mehr abgehört werden oder krankgeschrieben und ohne Medikamente nach Hause geschickt werden. Von den Öffnungszeiten her arbeiten viele HÄ nur noch von 8-12 Uhr, was für Berufstätige heißt: Durchhalten ohne ärztliche Unterstützung.

  7. 75.

    …damit im Notfall noch mehr Zeit verstreicht. Für alle nicht privatversicherten wird das ein Problem darstellen.
    Statt Bürokratie abzubauen werden mehr Umwege gemacht.

  8. 74.

    Ja, manchmal sollte man sich an "Altbewährtes" erinnern. Das würde auch Politikern gut tun - man muss dass Rad nicht immer neu erfinden und es spart Zeit, da es ja nur nachempfunden werden muss.
    Die Ärztehäuser sind bisher zum großen Teil leider nur ein schwacher Abklatsch der alten Polikliniken. Insbesondere dann, wenn die Ärztehäuser durchkommerzialisiert werden, kann es mit der Qualität nichts werden. Hier ist ein Umsteuern durch alle (!) Parteien und Gesundheitsminister dringend angeraten.

  9. 73.

    Das ist der falsche Stolz, der im Westen gehalten wird. Sozialistische Umsetzungen müssen grundsätzlich verneint werden, auch wenn sie Teils die besseren waren.

  10. 72.

    ....Und dann noch vielleicht nur noch eine Krankenkasse, eine Versicherung und eine Rentenkasse in die ALLE einzahlen?
    Na das will hier doch keiner lesen, wo kommen wir denn hin wenn man sich von der DDR was abgucken würde und sei es auch nur ein bisschen. Lesen sie lieber den Beitrag des rbb über die Zwangsarbeit im DDR Knast, dann sind sie wieder in der Spur.

  11. 71.

    Wenn ich oder jemand aus meiner Familie zum Beispiel einen Hautausschlag oder Ohrenschmerzen haben, gehen wir immer sofort zum Hautarzt oder HNO Arzt. Weil der Facharzt eben kompetenter ist. Warum sollen wir jetzt erst beim Hausarzt warten, damit wir dann zum Facharzt kommen? Ich hatte mal extreme Ohrenschmerzen und war natürlich sofort beim Facharzt, der dann sofort das richtige Medikament verschrieben hat. Das wäre beim Hausarzt vielleicht schief gegangen.

  12. 70.

    Die beste Lösung wäre eh ein Poliklinik-System wie zu Ostzeiten.
    Dort arbeiteten Allgemeinmediziner und Fachärzte Hand in Hand und unbürokratisch zusammen.
    Aber das System wurde aus ideologischen Gründen zuerschlagen. Und die Ärztehäuser sind nicht annähernd eine Alternative. Zwar vieles im srlben Haus, aber doch isoliert.

  13. 69.

    Wenn ich mir den Fuß umknicke brauche ich keinen Hausarzt sondern einen Orthopäde. Also vollkommen daneben dieser (alte) Vorschlag.

  14. 68.

    Wenn ich HNO habe, gehe ich zum HNO. Was soll ich damit den Hausarzt belagern. Der hat auch gar nicht alle Geräte und Instrumente. Außerdem ist mein HNO seit 40 Jahren ebenso mein Hausarzt für HNO Sachen. Gehe ich zum Hausarzt, muss ich trotz Termin in der Regel 2 Stunden im Wartezimmer sitzen um dann zum Facharzt überwiesen zu werden, wo ich noch mal warte. Ich finde, die Menschen rennen heute viel zu schnell zum Arzt wergen Sachen, die man auch leicht mit Hausmitteln erledigen könnte. Da sehe ich das Problem. Und die SV-Urlauber, die etwa am Wochenende zu sehr gefeiert haben und dann eine Krankschreibung wollen. So einen Kollegen haben wir auch vor und nach Wochenenden oder Feiertagen oder Urlaub.. Da müsste gegen vorgegangen werden.

  15. 67.

    Es sind tatsächlich in der Regel die guten Ärzte, die nach medizinischer Notwendigkeit handeln und weniger nach Privat- oder Kassenpatient. Ich denke also ihr Eindruck hängt auch sehr von der Arztwahl ab....

    Ich spreche auch nicht gegen das Hausarztsystem per se, im Gegenteil . eine gute HausärztIn kann viel erreichen und hat den Überblick und verhindert ggfs unsinnige Facharzttermine (die ja auch für Patienten nervig sein können, wenn sie falsch sind). Da geht man gerne freiwillig hin, Betonung auf freiwillig, dh es geht vorallem auch um diesen grundsätzlichen Zwang und den Bürokratismus, zb auch bei Standardvorsorgetermine erstmal eine Überweisung holen zu müssen ist einfach idiotisch und volkswirtschaftlich wahrscheinlich viel teurer, als falsche Facharzttermine. Und wie schon gesagt, es gibt zu wenig Hausärzte (daher ist das Ganze sowieso rechtlich bedenklich)und manche Fachärzte verlangen sowieso eine Überweisung.

  16. 66.

    „Hausärzte-Verband begrüßt Primärarzt-Pläne“ logisch, Ist doch schnelles Geld verdienen!
    Am Empfang stellt die Schwester die gewünschte Überweisung aus (Erfahrung von früher)und schon kann die Praxis der Krankenkasse x Euro in Rechnung stellen. Ist doch eine gute Aufwands-Ertrags-Rechnung für die Praxen, klar das da die Lobby dafür ist.
    Und jetzt die Frage: Wer berät die Politiker?

  17. 65.

    Vergleiche mit anderen Ländern hinken immer. In der Schweiz gibt es je 1000 Patienten mehr Allgemeinmediziner als in Deutschland und überhaupt ja mehr Gesundheitspersonal auf 1000 Einwohner. Da kann sich das auch gut vereilen, wenn man ein dickes Knie hat, erst zum Hausarzt, der einen dann eh nur eine Überweisung zum Facharzt gibt, zu dem man dann hinhumpeln muss. Und bei beiden Ärzten wartet man dann... und wartet... und wartet... zumindest hier in Deutschland geht für solch eine Patienrally dann ein ganzer Arbeitstag drauf, den man sich dann auch Krank schreiben lässt.

  18. 64.

    Bei den im Artikel herausgestellten Privatkassen funktioniert das System auch schon seit "immer". Augenarzt, Zahnarzt, Gyn geht man direkt hin. Echte Fachärzte nach Konsultation des Hausarztes. Kein großes Ding. Und bei wiederkehrenden Besuchen für jährlich wiederkehrende Termine o.ä. machen die Ärzte sowas auch ohne Besuch.

  19. 63.

    Ja toll in der Schweiz. Warum soll man in die Schweiz schauen, wenn wir hier das Modell bereits hatten und es hat natürlich nicht funktioniert hat.
    Und warum es hier nicht funktionieren kann ist ja offensichtlich.
    Aber offenbar gehört Deutschland zu den Ländern, die stur ein und dasselbe Experiment mehrfach wiederholen und auf einen anderen Ausgang hoffen, anstatt daraus zu lernen.

  20. 62.

    Dieses Modell- erst Hausarzt dann Überweisung- hatten wir vor 50 Jahren. Das war schlimm, weil es viele Ärzte gab, die meinten, sie könnten alles allein behandeln. Überweisungen zum Facharzt erfolgten oft viel zu spät. Warum jetzt Rolle rückwärts????

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