Straßenzeitungen in Berlin - 60 Cent für die kurze Störung

Do 28.03.13 | 00:00 Uhr | Von Bettina Rehmann

Verkäufer von Straßenzeitungen gehören zu den Ärmsten in Berlin. Doch unter ihnen sind längst nicht nur Obdachlose, sondern auch Hartz-IV-Empfänger oder Einwanderer. Der Markt ist hart umkämpft - und der Erlös gering. Von Bettina Rehmann

"Entschuldigen Sie die kurze Störung. Sicherlich haben Sie auch schon mal vom strassenfeger gehört. Ich bin Obdachlos und kann mir mit dem Verkauf der Zeitung ein paar Cent dazuverdienen für eine warme Mahlzeit oder eine Notunterkunft. Ich würde mich also freuen..."

Wir wollen die Leute einfach nur vor sich selbst schützen.

Andreas Düllick
In der Berliner S- oder U-Bahn ist dieser Aufsager so oder ähnlich täglich dutzendfach zu vernehmen. Mal monoton auswendig gelernt, durch Alkohol oder Drogenkonsum vernebelt dahin gelallt, bisweilen fröhlich und überzeugt präsentiert.

Der Berliner strassenfeger ist eines von zwei größeren Angeboten zur Selbsthilfe - für jene, die die Einnahmen aus dem Verkauf bitter nötig haben. Die Redaktion ist in der Prenzlauer Allee untergebracht, direkt gegenüber dem S-Bahnhof, mitten im gentrifizierungsgeplagten Prenzlauer Berg. Hier sind auch die anderen Angebote des Vereins mob e.V. zu finden: Eine Notunterkunft mit 17 Betten, das Kaffee Bankrott, der Trödelpoint und, im verlängerten Winter besonders geschätzt, ein warmer Aufenthaltsraum.

"Geerdete" Arbeit der Redaktion

Für den Chefredakteur des strassenfegers, Andreas Düllick, ist der Ort der Redaktion essentiell: So bleibe man geerdet, sagt er, mittendrin zwischen den Problemen der Obdachlosen. Auch wenn es manchmal etwas zuviel wird, wenn er etwa den Sozialarbeiter spielen oder einen Streit zwischen Obdachlosen schlichten muss, der direkt vor der Tür eskaliert.
Gemeinsam mit zwei bis drei Mitarbeitern - oft Ein-Euro-Jobber - und ehrenamtlichen Helfern gestaltet Düllick die zwei Mal im Monat erscheinende Zeitung. Entgegen vieler Vorurteile, auch von Journalisten-Kollegen, versucht das Team, einen anspruchsvollen Inhalt zusammenzustellen. Mal zu soften, häufig aber auch zu harten Themen. In der Ausgabe vom 6. März wurden zum Beispiel unter dem Titel "Fair", unter anderem Themen wie die Armutseinwanderung differenziert behandelt.

Zum zweiten Mal haben die Redakteure des strassenfegers jetzt auch eine Blattkritik veranstaltet, bei der Journalisten mit Außenblick den Inhalt analysieren. "Vor zwei Wochen hatten wir eine Taz-Redakteurin da, gestern war Knut Teske da, der ehemalige Leiter der Axel-Springer-Journalistenschule, der hat zwei Stunden lang die aktuelle Ausgabe auseinander genommen. Es war knallhart, aber gut." Düllick vermutet zwar, dass die Blattkritiker sich zuvor nicht mit dem strassenfeger auseinandergesetzt haben, freut sich aber darüber, dass die Journalisten über das Niveau erstaunt seien.

Schulung der Verkäufer schwierig

Mit diesem Stolz auf die redaktionelle Arbeit bieten manche Verkäufer die Zeitung dann auch tatsächlich an. Auf welche Weise, in welcher Menge und wo sie das tun, ist ihnen überlassen. Dennoch werden ihnen einige Regeln an die Hand gegeben. Sie erhalten einen Ausweis, nachdem sie eine sogenannte Selbstverpflichtungserklärung unterschrieben haben. Darin sind Grundsätze zum Verhalten an der Ausgabestelle, gegenüber anderen Verkäufern und Kunden erklärt. Zudem sollen die Verkäufer darin angeben, ob sie staatliche Leistungen beziehen.

"Wenn jemand ein guter Verkäufer ist und Summe X verdient, dann ist er verpflichtet, wenn er Hartz-IV-Leistungen bezieht, das zu melden. Wenn er das nicht macht, wird er Probleme bekommen. Wir wollen die Leute einfach nur vor sich selbst schützen." Für Hartz-IV-Empfänger gilt ein Grundfreibetrag von 100 Euro, der nicht angerechnet wird.

Oft werde er darauf angesprochen, so Düllick, dass manches Verhalten der Verkäufer unangemessen sei und ob man die Menschen nicht besser schulen könne. Doch Düllick winkt ab. Die meisten haben einen Haufen existenzieller Probleme – an Verkaufsschulungen sei da gar nicht zu denken.

Hartz-IV-Empfänger und Einwanderer unter den Verkäufern

Einen Verkaufsausweis des strassenfegers haben etwa 1.500 Menschen, die aber nicht alle aktiv verkaufen. Bei der zweiten großen Berliner Straßenzeitung, motz, geht man von einigen hundert Verkäufern aus. Wie viele es aber tatsächlich sind, weiß eigentlich niemand.

Auch wenn beim strassenfeger die Menschen ankreuzen, ob sie staatliche Hilfen beziehen oder nicht, wird damit noch keine Statistik erhoben. Es ist nicht bekannt, wie sich die Verkäuferstruktur zusammensetzt, wie viele von ihnen obdachlos oder arbeitslos sind oder wer aus dem Ausland stammt.

Christian Linde, der Redaktionsleiter der motz, erklärte kürzlich, seit der Einführung von Hartz IV sei die Verkäuferschar seiner Straßenzeitung eine andere geworden. Es sind die Armen der Gesellschaft, die die Zeitungen verkaufen, nicht nur Obdachlose. Dazu gehören seit Hartz IV eben auch Sozialhilfeempfänger. Auch Einwanderer sind darunter. Jeder kann die Hefte vertreiben und sich ein Zubrot verdienen.

"Viele gehen vielleicht nicht mehr klauen!"

Niemand wird mit dem Verkauf der Straßenzeitungen reich, meint Andreas Düllick. Aber: "Viele Menschen werden vor Beschaffungskriminalität bewahrt, gehen vielleicht nicht mehr klauen." Er schätzt, dass gute Verkäufer an guten Tagen auch mal bis zu 20, 30 Zeitungen an den Leser bringen können, genauso häufig seien es aber auch mal nur zwei bis drei.

Die Verkäufererklärung gibt es beim strassenfeger in Deutsch, Polnisch und Rumänisch. Seit der EU-Erweiterung kämen viele mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland, so Düllick. Arme aus Rumänien, Bulgarien, auch Lettland, England oder im Einzelfall auch aus Spanien seien - wie die Armen aus Deutschland - unter den Verkäufern.

Doch für wen auch immer - es ist ein hartes Geschäft. Es kann Stunden, manchmal den ganzen Tag dauern, bis ein paar Hefte an den Mann gebracht sind. Die Verkäufer teilen sich ihre Bühnen in der S-Bahn oder vor Geschäften mit Bettlern und Straßenmusikern. Die potentiellen Käufer haben Stress, keine Zeit, eigene Probleme oder schon eine andere Straßenzeitung gekauft.

Der strassenfeger kostet 1,50 Euro, der Verkäufer zahlt 60 Cent - bleiben 90 Cent Gewinn. Die motz ist für 1,20 Euro zu haben, hier sind es 80 Cent, die für den Obdachlosen als Erlös abfallen. In verschiedenen Ausgabestellen der Stadt müssen die Verkäufer die Zeitungen zunächst selbst kaufen.

Auf Kommission erhalten sie diese nicht. Das würde, so Düllick, auch nicht funktionieren. Für manche heißt es also, das Geld für den Einkaufspreis erst einmal zusammenzubekommen. Daher würden einige sogar mehrmals am Tag kommen, um jeweils ein Heft zu erstehen.

Sonderregelungen in der U-Bahn

Das ist auch für die BVG ein Grund dafür, den Verkauf der Straßenzeitungen in den Berliner U-Bahnen zu tolerieren. Es gebe zwar ein generelles Verkaufsverbot, "die Verkäufer der Obdachlosenzeitungen sind davon allerdings nach einem Agreement mit der Sozialverwaltung ausgenommen, weil sie mit dem Verkauf der Zeitungen zumindest teilweise zum eigenen Lebensunterhalt und der Unterstützung der Einrichtungen beitragen", so der Pressesprecher der Berliner Verkehrsbetriebe, Klaus Wazlak.

Die S-Bahn verzeichnete im Vergleich zum letzten Jahr zuletzt einen Rückgang bei den Kundenbeschwerden wegen Belästigung durch Verkäufer, Bettler oder Musiker. Ob dieser Trend anzeigt, dass heute mehr Menschen Verständnis für die Probleme der Ärmsten der Gesellschaft haben, lässt sich nicht sagen. Vielleicht lassen einfach mehr Menschen die vorgetragene Entschuldigung für die kurze Störung gelten.

Beitrag von Bettina Rehmann

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