Zweifel an Einzeltäter-These - Grüne werfen Behörden Ermittlungsfehler im Fall Amri vor

Obwohl ein Gutachten auf DNA-Spuren einer bisher unbekannten Person im Führerhaus des Todes-Lkw hinweist, haben das BKA und der Generalbundesanwalt keinen Abgleich der DNA eines als "Gefährder" eingestuften Weggefährten von Anis Amri vorgenommen. Von Jo Goll (rbb), Ulrich Kraetzer und Christian Unger (Berliner Morgenpost)
Im Fall des islamistischen Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz werfen die Grünen den Ermittlungsbehörden vor, DNA-Spuren aus dem Führerhaus des Lkw nur unzureichend ausgewertet zu haben. Die Bundesregierung bestätigte inzwischen, dass es bislang keinen DNA-Abgleich mit einem als anschlagsbereiten "Gefährder" eingestuften Vertrauten des Attentäters Anis Amri gibt.
Festlegung auf Einzeltäter-These
Bundesanwalt Horst-Rüdiger Salzmann ließ bislang keine Zweifel an der Vermutung aufkommen, dass der Islamist Anis Amri beim Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 Komplizen gehabt haben könnte. Dafür gebe es "keine Anhaltspunkte", sagte Salzmann im August vergangenen Jahres im Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses. Im Untersuchungsausschuss des Bundestages bekräftigte Salzmann seine Aussage kurz darauf. "Direkte Mittäter am Tatort Berlin" hätten sich nicht feststellen lassen.
Anis Amri, der Einzeltäter: Auf diese Einschätzung haben sich die Ermittler des Generalbundesanwaltes und des Bundeskriminalamtes (BKA) vorläufig festgelegt. Doch es mehren sich Zweifel – und die Kritik an der Arbeit der Ermittlungsbehörden wird lauter.
"Wer nicht sucht, wird auch nichts finden", sagt Irene Mihalic, selbst Polizistin und für die Grünen Mitglied im Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Und Konstantin von Notz, Grünen-Fraktionsvize und ebenfalls Mitglied des Untersuchungsausschusses, ist gar der Überzeugung, das Bundesinnenministerium und die Bundesregierung würden sich für die Frage, ob Amri Mittäter gehabt haben könnte, schlicht nicht interessieren.
Tatsächlich stehen Fragen im Raum, die bislang nicht geklärt wurden. Dabei geht es vor allem um DNA-Spuren in der Führerkabine des Lkw, dessen Todesfahrt auf dem Breitscheidplatz elf Menschen das Leben kostete. Der Bundestaguntersuchungsausschuss hatte zur Untersuchung dieser DNA-Spuren ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag gegeben.
Im März dieses Jahres legten die Experten der Forensischen Genetik des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein ihr Ergebnis vor. Zum einen stellten sie fest, dass die "Spurenlage" unmittelbar nach dem Anschlag durch Rettungskräfte und Polizisten verändert wurde und somit nicht eindeutig sei. Zum anderen merken sie auf dieser Grundlage an, dass aufgrund der vorliegenden DNA-Befunde "nicht ableitbar" sei, "dass eine bestimmte Person (z.B. Amri) … den LKW gefahren hat".
Denn es gab Spuren einer bislang unbekannten zweiten Person, im Gutachten als "UP 2" bezeichnet, die "in vergleichbarem Ausmaß DNA-Spuren im Lkw-Führerhaus hinterlassen hat wie Amri". Die Annahme, dass nicht Amri, sondern die "UP 2" den Lkw gesteuert habe, sei daher "grundsätzlich nicht auszuschließen".
Wer ist die "unbekannte Person"?
Wer aber könnte die "UP 2" sein? Im Fokus steht dabei Walid S., ein enger Vertrauter von Anis Amri. Der 22-Jährige ist den Sicherheitsbehörden bestens bekannt. Bereits im Jahr 2015 soll er versucht haben, in den Irak zu reisen, um sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" anzuschließen. Walid S. besuchte zudem den Dschihadisten-Treff in der Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit. Dort lernte er auch Anis Amri kennen.
Im April 2018 stand Walid S. erneut im Fokus. Die Sicherheitsbehörden verdächtigten ihn, einen Anschlag auf den Berliner Halbmarathon geplant zu haben. Bei der Polizei ist Walid S. als "Gefährder" eingestuft – als Islamist also, dem die Sicherheitsbehörden einen Anschlag zutrauen.
Die Vermutung, dass Walid S. mit der Todesfahrt auf dem Breitscheidplatz zu tun gehabt haben könnte, ergibt sich aus den Abläufen am Anschlagstag. Der Islamist gehörte am 19. Dezember 2016 zu den letzten Personen, die direkten Kontakt zu Anis Amri hatten.
"Bruder, wie geht’s Dir?", simste Amri an jenem Montagmorgen an Walid. S. Später wurden beide durch eine Überwachungskamera vor einem Baumarkt in Berlin-Wedding aufgenommen. Danach aßen sie gemeinsam in einem türkischen Restaurant, fuhren mit der U-Bahn bis nach Neukölln und trennten sich dort erst am frühen Abend. Wenige Stunden später kaperte Amri den Lkw und erschoss den Fahrer.
Nur wenige Stunden nach dem Anschlag trat Walid S. erneut in Erscheinung. Beamte der Berliner Polizei stellten den Mann, der ihnen als Gefährder bestens bekannt war, mit weiteren Islamisten am Breitscheidplatz fest – nur wenige Meter entfernt vom Anschlagsort.
Alles nur ein Zufall?
In einer ersten Zeugenvernehmung, die rbb 24 Recherche und der Berliner Morgenpost vorliegt, behauptete Walid S, er habe am Breitscheidplatz in der Wohnung eines Freundes eine Playstation abholen wollen. "Der zweite Grund war, dass wir sehen wollten, was passiert ist", gab er weiter zu Protokoll. Mit dem Anschlag habe er nichts zu tun.
Dass er Amri wenige Stunden vor dem Anschlag getroffen hatte, verschwieg Walid S. zunächst. Erst in einer zweiten Vernehmung durch das Bundeskriminalamt räumte er ein, dass er sich doch mit Amri getroffen habe. Sie hätten dabei aber nur über "alltägliche Sachen" und "nichts Besonderes" gesprochen.
Das Bundeskriminalamt und der Generalbundesanwalt kennen die islamistische Karriere von Walid S. Die Ermittler wissen auch, dass sich im Führerhaus des Lkw bisher nicht zuzuordnende DNA-Spuren befanden. Doch ein Abgleich dieser Spuren mit der DNA von Walid S. ist bislang nicht erfolgt. Das räumte die Bundesregierung jetzt auf Anfrage der Grünen-Abgeordneten Mihalic und von Notz ein.
Der Grund: Walid S. habe sich kurz nach dem Anschlag geweigert, freiwillig eine DNA-Probe abzugeben. Er galt damals nur als möglicher Zeuge. Für eine zwangsweise Erhebung einer Speichelprobe hätten deshalb die rechtlichen Voraussetzungen gefehlt, heißt es in der Antwort. "Daher liegt in der unterbliebenen Erhebung von DNA-Material auch kein Versäumnis."
Keine DNA-Probe des Gefährders Walid S.
Doch inzwischen sind fast fünf Jahre vergangen. Und längst wäre die Entnahme einer solchen Probe möglich gewesen. Der Grund: Im Juni und im Juli vergangenen Jahres hatte Walid S. den Besitzer eines Autos bedroht und Polizisten attackiert. Im Oktober griff er mit einem Messer Passanten an, um an ihr Geld zu gelangen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hatte daraufhin Ermittlungen gegen den Islamisten aufgenommen, unter anderem wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung: eine "Straftat von erheblicher Bedeutung". Gemäß §81g der Strafprozessordnung haben die Ermittler bei derartigen Straftaten die Möglichkeit, eine DNA-Probe von Walid S. zu entnehmen. Wenn nicht freiwillig, dann mit richterlichem Beschluss.
Warum die Ermittlungsbehörden darauf verzichteten, ist unklar. Die Berliner Polizei verwies auf Anfrage an die Staatsanwaltschaft. Deren Sprecher sagte, die Staatsanwaltschaft werde sich zu der Frage nicht äußern. Gründe für die Verweigerung einer Antwort nannte der Sprecher nicht.
Grüne bezeichnen fehlende DNA-Probe als "schweres Versäumnis"
Irene Mihalic und Konstantin von Notz betrachten die versäumte Entnahme einer DNA-Probe von Walid S. und den bis heute nicht erfolgten Abgleich mit den nicht zuzuordnenden Spuren im Lkw als schweres Versäumnis. "Die Bundesregierung hat in den letzten vier Jahren eindrücklich dokumentiert, dass sie die Aufarbeitung des Anschlages mit dem Tod des Attentäters Amri als weitgehend abgeschlossen ansieht", kritisiert von Notz. "Das ist nicht nur bedauerlich, sondern gefährlich", sagt von Notz. "Denn wer nichts klärt, der lernt auch nichts."
Mihalic bezeichnet die Antwort der Bundesregierung als "beschämend". Dass Walid S. keine DNA-Probe entnommen wurde, sei "völlig unverständlich". "Diese Passivität ist inakzeptabel und behindert die ernsthafte Aufklärung des Anschlags und seiner Ursachen", sagte Mihalic.
Walid S. wurde nach der Bedrohung des Auto-Besitzers, der Attacke auf die Polizisten und dem räuberischen Messerangriff mittlerweile zu fünf Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Aus Sicherheitskreisen ist zu hören, dass dem Islamisten nun wohl doch eine DNA-Probe entnommen werden soll. Die Probe könne dann mit den DNA-Spuren im Führerhaus des Lkw abgeglichen werden. Dann wisse man auch, ob Walid S. womöglich in der Fahrerkabine gewesen sein könnte.
Warum diese Maßnahmen erst jetzt eingeleitet werden? Rund viereinhalb Jahre nach dem Anschlag? Die Frage sei berechtigt, heißt es.
Sendung: Inforadio, 21.05.2021, 6 Uhr
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