Verfassungsschutzbericht - Verschwörungserzählungen haben sich im Corona-Jahr 2020 zu neuer Gefahr entwickelt

Im vergangenen Jahr haben Erzählungen von Verschwörungen ein neues Niveau erreicht. Das sei als "Warnsignal" zu verstehen, heißt es im aktuellen Berliner Verfassungsschutzbericht. Besonders verfangen hat die Erzählung von der "Corona-Diktatur". Von Olaf Sundermeyer
Verschwörungstheorien haben sich im Coronajahr 2020 nach Einschätzung des Berliner Verfassungsschutzes zu einer neuen Gefahr entwickelt. Ihr "demokratiegefährdendes Potenzial" habe sich offen wie selten zuvor gezeigt, heißt es im Verfassungsschutzbericht 2020, der am Dienstag von Innensenator Andreas Geisel (SPD) vorgestellt wurde. Die Entwicklung sei ein "Warnsignal für eine demokratische Gesellschaft".
Zwar seien Verschwörungserzählungen bei Rechtsextremisten und sogenannten Reichsbürgern schon immer erfolgreich gewesen. Inzwischen sei es aber “besorgniserregend“, dass sich "immer mehr Menschen" außerhalb extremistischer Kreise dafür empfänglich zeigten, schreibt die Behörde in einem Kapitel des neuen Verfassungsschutzberichts.
Senator Geisel betonte auf der Pressekonferenz am Dienstag: "Nicht jeder Corona-Maßnahmen-Gegner ist ein Verfassungsfeind. Meinungsstreit muss es geben." Es sei jedoch zu beobachten, dass in dieser Bewegung "Bestrebungen über Kritik an Maßnahmen hinausgehen und demokratiefeindlich sind." Die Corona-Pandemie habe sich als "Belastungsprobe für den gesellschaftlichen Zusammenhang erwiesen". Geisel forderte eine stärkere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Verbreitung von Verschwörungserzählungen.
Zahl der Extremisten steigt
Dem Bericht zufolge ordnet die Behörde in Berlin 1.430 Menschen dem Rechtsextremismus zu – etwa 750 seien gewaltorientiert. Das sind 50 mehr als im Jahr 2019.
Der Szene der Reichsbürger werden 670 Menschen zugeordnet, 150 davon seien zugleich rechtsextremistisch. Die Reichsbürger waren 2019 auch wegen der Teilnahme an Demonstrationen deutlich sichtbarer, offensiver und aggressiver aufgetreten, heißt es in dem Bericht.
Gestiegen sei auch die Zahl der Menschen, die sich im Spektrum des Linksextremismus bewegten. Demnach gehören 3.600 Mitglieder dieser Szene an - 200 mehr als 2019. Von den 3.600 seien 980 gewaltbereit.
Auch das Gefährdungspotenzial beim Islamismus ist Geisel zufolge unverändert hoch. Es gibt laut Bericht ein Personenpotenzial von 2.170 Menschen – so viele im Vorjahr.
Corona-Verschwörungs-Bewegung spricht von einer "Plandemie"
Der Berliner Verfassungsschutz weist daraufhin, dass Verschwörungserzählungen über die bundesweite Anti-Corona-Protestbewegung den Anschluss an die gesellschaftliche Mitte gefunden haben. Die Behörde beobachte "eine Entwicklung, die in einem wachsenden Teil der Gesellschaft mit einem schwinden Vertrauen in die Institutionen und Mechanismen unseres demokratischen Rechtsstaates einhergeht und sich zu einer ernsthaften Krise unserer Demokratie entwickeln könnte."
Im Wesentlichen handelt die Verschwörungserzählung aus Berlin von einer "Corona-Diktatur", in die das Land durch die Bundesregierung gezwungen werde. Sie fußt auf der Annahme, dass die Pandemie eine Erfindung ist. Ihre Anhänger sprechen deshalb von einer "Plandemie", also von einer geplanten Kampagne mit dem Ziel, "die Demokratie abzuschaffen".
Das Ergebnis? Eine "Machtelite“, die die ihrer Grundrechte beraubte Bevölkerung problemlos ausbeuten könne, so die Kernbotschaft der ehemals linken Berliner Aktivistengruppe "Demokratischer Widerstand". Sie verbreitet diese Verschwörungserzählung bereits seit Beginn des ersten Lockdowns.
Gruppe bezeichnete Corona als "Betrügertrick"
Auf einer Pressekonferenz der Gruppe im Mai 2020, die in einer Wohnung in Berlin-Wedding abgehalten wurde, klang das dann konkret so: "Die Corona-Panik ist eine Inszenierung, sie ist ein Betrügertrick. Es ist höchste Zeit, dass wir verstehen, dass wir inmitten eines weltweiten, mafiösen Verbrechens sind."
Einzelne Gruppierungen und Akteure dieser Bewegung der Verschwörungserzählungen werden bereits durch das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet - als Verdachtsfall einer extremistischen Bestrebung, ebenso durch den Berliner Verfassungsschutz.
Verdachtsfall-Gruppen nicht im Verfassungsschutzbericht ausgewiesen
Solange die Beobachtung als Verdachtsfall noch nicht zu der Erkenntnis einer erwiesenen extremistischen Bestrebung geführt hat, dürfen diese Gruppen nicht im Verfassungsschutzbericht ausgewiesen werden. Nach rbb-Informationen stehen allerdings die Aktivitäten von Mitgliedern des "Demokratischen Widerstands" um deren Kopf Anselm Lenz unter Beobachtung.
Die Verschwörungserzählung von der "Corona-Diktatur" verbreitete Lenz selbst in zahlreichen Demonstrationsreden, wie etwa am Ostersamstag auf einer Bühne der "Querdenken"-Bewegung vor 20.000 Menschen in Stuttgart. "Was wir seit einem Jahr erleben, ist ein totalitärer Übergriff und den akzeptieren wir nicht", sagte Anselm Lenz dort. "Das, was wir hier machen, müssen wir auch weiterhin tun, und dürfen nicht aufhören es zu tun. Dann gibt es auch eine gute Chance, dass wir dieses verfassungsbrüchige Regime hinwegfegen werden." Seine Aussagen wurden über zahlreiche Online-Kanäle verbreitet.
Anhänger der Bewegung wollen sich durch "Widerstandsrecht" legitimieren
Die Anhänger der Bewegung sehen sich in ein "Widerstandsrecht" gesetzt, das sie aus dem Grundgesetz herleiten (Artikel 20, Absatz 4). Dort heißt es: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." Konkret führte das zu massenhaften Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz durch Anhänger der Bewegung.
Das Infektionsschutzgesetz erklärten die Anführer der Bewegung zum "Ermächtigungsgesetz" der so genannten "Corona-Diktatur". Über dieses Widerstandsrecht ist auch Gewalt in den Augen vieler Anhänger der Bewegung legitimiert, zum Beispiel gegen Vertreter des Staates wie etwa Polizisten.
Auch deshalb erreichte die politisch motivierte Kriminalität in Deutschland einen neuen Höchststand, wie Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) vor einer Woche in Berlin bei der Vorstellung der Jahreszahlen berichtete. Das Bundeskriminalamt habe unter dem Begriff "Corona" vergangenes Jahr rund 3500 Straftaten erfasst, darunter fast 500 Gewalttaten, viele gegen Polizisten und Journalisten.
AfD übernimmt Verschwörungserzählung
Längst hat auch die AfD die Verschwörungserzählung von der angeblichen "Corona-Diktatur" übernommen und in die Parlamente getragen: Zuerst in den Brandenburger Landtag, dann in den Deutschen Bundestag, schließlich auch in weitere Länderparlamente wie das Berliner Abgeordnetenhaus. Sieht sich die AfD doch als „parlamentarischer Arm“ dieser Bewegung.
Netzaktivistin: Wahlen 2021 werden von Verschwörungserzählungen überschattet
In Deutschland von einer "Corona-Diktatur" zu sprechen, ist gefährlich, sagt die Netzaktivistin Katharina Nocun. Sie beobachtet seit Jahren die Wirkmechanismen von Verschwörungserzählungen. Die Bundesrepublik werde "gleichgesetzt mit einem NS-Regime, teilweise mit der DDR. Mit so einem Narrativ lässt sich natürlich auch ganz wunderbar Gewalt rechtfertigen", warnt Nocun.
Der Berliner Verfassungsschutz rechnet damit, dass Verschwörungserzählungen auch nach Pandemie-Ende demokratiefeindlich wirken können. Nach Corona könne ein anderes Thema auf diese Weise aufgegriffen werden.
Diese Sorge teilt auch Nocun. Sie geht davon aus, dass die anstehende Bundestagswahl sowie die Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin "von Verschwörungserzählungen überschattet werden könnten". Die Folgen habe man nach den Wahlen in den USA gesehen. "Wenn eine einzelne Partei oder ein einzelner Politiker behauptet, Wahlen würden gefälscht werden, dann stellt das natürlich die Integrität der Demokratie der Institutionen insgesamt infrage."
Sendung: Abendschau, 11.05.2021, 19:30 Uhr
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