Berliner Feuerwehr - Wenn der Rettungsdienst zum Notfall wird

Schon 149 Mal wurde in diesem Jahr beim Rettungsdienst der Berliner Feuerwehr der Ausnahmezustand ausgerufen. Mehr als doppelt so häufig wie im vergangenen Jahr. Es fehlt an Personal - mehr als 500 Stellen sind unbesetzt. Von Ute Barthel
Bei Dienstbeginn um 6:30 Uhr denken Marcel Fahrenholz und Leonard Bölke noch, dass ihre Schicht etwas ruhiger verlaufen könnte, nachdem an diesem Morgen bundesweit die Notrufnummern ausgefallen waren. Doch als der Notruf wieder funktioniert, ist es wie immer - und die beiden Notfallsanitäter von der Feuerwache Urban in Kreuzberg rücken gleich zu ihrem ersten Einsatz aus: In der Oranienstraße ist bei einem Mann eine Krampfader geplatzt.
Nachdem sie die Blutung gestoppt haben, liefern sie ihn in der Notaufnahme im Urban-Krankenhaus ein. Kurz danach kommt der nächste Alarm: Ein älterer Herr ist in der Dusche ohnmächtig geworden, seine Frau ruft den Rettungsdienst. Kaum ist der Patient versorgt, müssen sie zu einer hilflosen Person auf dem Bahnhof Friedrichstraße.
Doppelt so viele Einsätze wie vor 15 Jahren
"Wir sind ständig unter Strom, fahren von einem Einsatz zum nächsten, ohne mal zwischendurch zur Ruhe zu kommen", erzählt Leonard Bölke. "Manchmal kehren wir gar nicht mehr zurück auf die Wache, werden gleich weiter zum nächsten Patienten gerufen. Und das zwölf Stunden hintereinander", ergänzt sein Kollege Marcel Fahrenholz.
Fahrenholz ist seit 2006 beim Rettungsdienst der Berliner Feuerwehr. Damals hatten sie in ganz Berlin durchschnittlich 800 Einsätze am Tag. Jetzt sind es bis zu 1.600 - also doppelt so viele.
Zu den ernsten Notfällen kommt eine Vielzahl kleinerer Einsätze: "Manchmal rufen uns die Leute wegen eines eingerissenen Fingernagels oder kleiner Schnittwunde, die sie selbst verbinden und dann zum Arzt fahren könnten." Wenn dann ein Notruf eingeht, müssen oft Rettungswagen aus weiter entfernten Wachen kommen.
Leonard Bölke erinnert sich, dass er einmal zu einem Einsatz nach Pankow gerufen wurde: "Das Stichwort war: Reanimation eines Kindes. Da zählt eigentlich jede Sekunde. Aber die Rettungswagen in Pankow waren alle im Einsatz. Und wir brauchten dann 20 Minuten. Zum Glück stellte sich vor Ort heraus, dass das Kind nur einen Fieberkrampf hatte."
In diesem Jahr schon 149 Mal im Ausnahmezustand
Um 10 Uhr erklärt der Lagedienst an diesem Tag ein weiteres Mal den Ausnahmezustand im Rettungsdienst. Bis zum 15. November passierte das 149 Mal - mehr als doppelt so oft wie im gesamten Vorjahr. Das geht aus der Antwort der Feuerwehr auf eine Anfrage von rbb|24 hervor.
Der Ausnahmezustand wird dann erklärt, wenn die Rettungswagen zu 80 Prozent ausgelastet sind und die vorgegebene Eintreffzeit von zehn Minuten bei den Patienten kaum noch eingehalten werden kann.
"Wir haben einfach zu viele Notrufe, die uns erreichen und viel zu wenige Fahrzeuge im Einsatz", erklärt der Sprecher der Berliner Feuerwehr, Thomas Kirstein. "Wenn wir das dann feststellen und den Ausnahmezustand ausrufen, nehmen wir zusätzliche Rettungswagen in den Dienst." Die Besatzung von Löschfahrzeugen muss dann auch Rettungseinsätze fahren. Doch wenn es auch da an Personal fehlt, bleiben Rettungswagen einfach unbesetzt: An diesem Tag sind es 14. Es mangelt an qualifizierten Notfallsanitätern – und nicht erst seit diesem Jahr.
536 Stellen nicht besetzt
Aktuell sind 536 Stellen bei der Feuerwehr nicht besetzt, 275 davon im Rettungsdienst. Der dringend benötigte Nachwuchs wird an der Berliner Feuerwehr- und Rettungsdienstakademie ausgebildet. Seit 2019 haben 97 Bewerber:innen dort ihre Ausbildung abgeschlossen, aber nur 75 wollten bei der Berliner Feuerwehr bleiben. "Die Ausbildung dauert drei Jahre und es geht gar nicht so schnell, dass wir genug Einsatzkräfte ausbilden können, die wir vielleicht jetzt schon benötigen", erklärt der Sprecher der Feuerwehr das Problem.
Gewerkschaft: Die Politik hat geschlafen
Dabei war es schon vor einigen Jahren absehbar, dass der Rettungsdienst dringend Verstärkung benötigt, sagt Micha Quäker von der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft "Da muss man ganz klar sagen, dass in den letzten 10 Jahren einfach mal gepennt worden ist", meint er und sieht das Versäumnis bei den zuständigen Berliner Politikern. "Es ist keine ordentliche Bedarfsplanung gemacht worden. Es ist offensichtlich vergessen worden, dass Neubauten in Berlin entstehen und damit auch Leute hinzuziehen. Das ist offensichtlich in der Politik vergessen worden. Sie haben jetzt versucht, in den letzten fünf Jahren nachzuziehen. Das war leider zu spät. Und wir sind das jetzt diejenigen, die das ausbaden müssen." Und es wurde vor allem vergessen, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Folgen zeigen sich jetzt.
Schon vor drei Jahren hatten die Gewerkschaften mit der Protestaktion "Berlin brennt!" auf die Notsituation in der Feuerwehr aufmerksam gemacht. Die Senatsverwaltung für Inneres sagte daraufhin eine bessere Bezahlung und fast 1.000 neue Stellen zu. Doch bis heute fehlen die Menschen, die diese Stellen besetzen könnten. "Im Grunde sind wir wieder an demselben Punkt, wie vor drei Jahren. Die Kollegen sind maximal gefrustet und sie sind sauer, weil die Belastung so groß ist", so der Gewerkschaftsvertreter. Eine schnelle Lösung ist nicht Sicht.
Entlastung durch mehr Ausbildungsplätze
Janosch Dahmen war selbst als Notarzt im Berliner Rettungsdienst im Einsatz bevor er als Abgeordneter der Grünen in den Bundestag zog. Gemeinsam mit seinem Parteifreund Benedict Lux hat er einen Plan zur Reform des Berliner Rettungsdienstes vorgelegt. "Mit hoher Priorität müssen die Ausbildungskapazitäten im Rettungsdienst gerade für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter ausgeweitet werden, um die nötige Anzahl an Kräften für die Zukunft auszubilden", fordert Dahmen deshalb. Auch müssten die Aufstiegsmöglichkeiten für die Rettungskräfte erhöht werden. Und mit flexibleren Arbeitszeitmodellen, zum Beispiel Sechs- bis Acht-Stunden-Schichten ließen sich dann auch mehr Kolleginnen und Kollegen mit Kindern im Rettungsdienst einsetzen.
Über diese Vorschläge diskutieren Vertreter der Feuerwehrleitung, der Senatsverwaltung für Inneres und der Gewerkschaften in der Task-Force Rettungsdienst. Die Zahl der Ausbildungsplätze wird in den nächsten beiden Jahren erhöht, von 120 Plätzen im Jahr 2021 auf 180 Plätze im Jahr 2023. Allerdings werden die neuen Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter dann erst drei Jahre später den Rettungsdienst verstärken können. Frühestens 2024 könnte es dann eine leichte Entlastung geben.
Sendung: Abendschau, 17.11.2021, 19:30 Uhr