Mauer-Fluchttunnel wieder freigelegt - Neues aus dem Untergrund

Fr 08.11.19 | 14:32 Uhr | Von Oliver Kranz
Fluchttunnel Berlin
Video: Abendschau | 07.11.2019 | Anke Hahn | Bild: Imago/snapshot-photography/F.Boillot

Selbst gegrabene Tunnel gehörten zu den spektakulärsten Möglichkeiten, der DDR zu entfliehen. Sieben Mal wurde die Berliner Mauer im Bereich der Bernauer Straße untertunnelt. Der Verein Unterwelten hat einen dieser Tunnel aufgespürt. Von Oliver Kranz

Es ist der erste Fluchttunnel, der in Berlin besichtigt werden kann – zumindest durch ein Fenster. Betreten kann man den Stollen nicht, das wäre viel zu gefährlich. Er ist nur 80 cm hoch und hat keinerlei Stützkonstruktion. Die DDR-Flüchtlinge hätten gerade so hindurchkriechen können, wenn der Tunnel nicht kurz vor seiner Vollendung verraten worden wäre. Ende 1970 hatten ein paar junge Leute begonnen, vom West-Berliner Stadtteil Gesundbrunnen aus den Fluchttunnel Richtung Osten zu graben. In neun Metern Tiefe sollten die Grenzanlagen unterquert werden. Ziel war das Haus Brunnenstraße 143 im Osten.

"Zu den Fluchttunneln gibt es unglaublich spannende Geschichten", sagt Dietmar Arnold, der Vorsitzende des Berliner Unterwelten e.V.. Deshalb bietet der Verein schon seit Jahren eine Tour mit dem Titel "Unterirdisch in die Freiheit" an. Doch gezeigt werden konnten die Fluchtrouten bisher nur oberirdisch mit Hilfe von Fotos und Straßenkarten. Es fehlte ein Ort, der spürbar macht, was eine Flucht durch einen Tunnel bedeutet. Wie verzweifelt mussten Menschen sein, um in einen engen Gang zu kriechen, der in neun Metern Tiefe durchs Erdreich führt? Wie viel Energie brauchten die Fluchthelfer, um mit Hacke und Spaten mehr als 100 Meter weit zu graben?

Die Spatenspuren sind noch zu sehen

Dem freigelegten Tunnel sieht man das Handgemachte an. Er verläuft nicht gerade, sondern in einer Schlangenlinie. Daher kann man nicht allzu weit hineinblicken. An den unregelmäßigen Wänden sind noch Spatenspuren zu erkennen. Wie orientierten sich die Tunnelbauer im Untergrund? Woher wussten sie, ob die Keller, zu denen die Tunnel führten, wirklich leer waren?

"Für mich sind die Fluchthelfer Helden", sagt Dietmar Arnold. "Sie haben oft monatelang gegraben und dann scheiterte das Projekt in letzter Minute. Manchmal gab es Wassereinbrüche, manchmal wurden die Tunnel verraten und auf der Ostseite wartete schon die Stasi. Sie wurden verhaftet oder einfach über den Haufen geschossen. Das Risiko war ihnen bewusst. Aber wenn eine Tunnelflucht gelang, kamen gleich sehr viele Menschen in den Westen. Das war für die Helfer ein unglaubliches Glücksgefühl."

Der Fluchthelfer Ulrich Pfeifer am 07.11.2019 bei der Eröffnung eines Fluchttunnels unter der ehemaligen Berliner Mauer (Quelle: imago images/snapshot)
Ulrich Pfeifer war beim Bau des freigelegten Fluchttunnels für die Vermessung zuständig | Bild: imago images/snapshot

Dietmar Arnold hat ein Buch über Tunnelfluchten geschrieben und mit vielen Zeitzeugen gesprochen – auch mit Ulrich Pfeifer, der beim Bau des nun freigelegten Tunnels für die Vermessung zuständig war. Er hatte 1962 schon beim Tunnel 29 mitgearbeitet, durch den 29 Menschen in den Westen gekommen waren. An diesen Erfolg wollte er 1970 anknüpfen: "Bei diesem Tunnel ging es nicht, wie bei den anderen zuerst senkrecht nach unten, sondern über eine schräge Rampe. So war es wesentlich einfacher das Erdreich abzutransportieren und der Bau ging schneller voran." Aus Sicherheitsgründen durfte niemand vom Grabungsteam das Haus, in dem der Tunnel begann, verlassen. Das ausgehobene Erdreich wurde im angrenzenden Keller und im Erdgeschoss deponiert. Nach neun Wochen Bauzeit war der Tunnel fast fertig – da bekam die Stasi Wind von dem Projekt.

"Erinnerung an eine dramatische Zeit"

"Sie wussten, dass wir einen Tunnel bauen, aber wussten nicht wo", erinnert sich Ulrich Pfeifer. "Zum Glück hatten wir einen Beobachtungsposten in der oberen Etage. Da haben wir gesehen, dass die Stasi mit Ultraschallgeräten nach dem Tunnel suchte – zuerst an einer völlig falschen Stelle, aber irgendwann haben sie ihn doch gefunden. Als sie anfingen, im Todesstreifen einen riesigen Trichter zu graben, wussten wir, die Sache ist geplatzt."

Heute ist der Fluchttunnel ein Mahnmal. "Es ist beeindruckend, dass auch dieses Projekt der Berliner Unterwelten wieder mit riesigem bürgerlichem Engagement erfolgreich zuende gebracht wurde", erklärt Axel Klausmeier, der Direktor der Stiftung Berliner Mauer. Der Tunnel sei eine ideale Ergänzung zur Mauerausstellung auf dem ehemaligen Grenzstreifen entlang der Bernauer Straße.

Unterwelten e.V. hat den Besuchertunnel, durch den man zum Fluchttunnel gelangt, auf eigene Kosten gebaut. Die Vereinsmitglieder leisteten ehrenamtlich viele hundert Arbeitsstunden. Dafür dankte bei der Eröffnung auch der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller: "Dieser Tunnel, der 30 Jahre nach dem Fall der Mauer eröffnet wird, erinnert uns an eine dramatische Zeit in der Geschichte der Stadt der Freiheit." Er ist ein wichtiger Mosaikstein, wenn es darum geht, die Folgen der deutschen Teilung anschaulich zum machen.

Sendung: Abendschau, 07.11.2019, 19:30 Uhr

Beitrag von Oliver Kranz

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