Krawalle vor Reichstagsgebäude - Müller räumt Versäumnisse beim Schutz des Bundestags ein

Die Ereignisse vor dem Reichstagsgebäude hallen auch Tage später nach. Der Regierende Bürgermeister räumt Versäumnisse bei der Kontrolle des Parlaments ein. Gleichzeitig verteidigen er und der Innensenator das später gekippte Verbot der Demonstrationen.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat Versäumnisse beim Polizeieinsatz am Samstag am Berliner Reichstagsgebäude eingeräumt. Mit Blick auf die Besetzung der Treppen vor dem Parlament von Demonstranten und der zunächst geringen Polizeipräsenz dort sagte der SPD-Politiker am Montagabend in der ARD-Sendung "hart, aber fair" [wdr.de]: "Das müssen wir anders koordinieren. Das müssen wir in Zukunft besser sichern".
Die Berliner Polizei ist für den Außenschutz des Bundestages zuständig. Trotz des Demonstrationsgeschehens mit vielen Orten in der Stadt "muss das trotzdem natürlich anders gesichert werden in Zukunft, gar keine Frage", räumte Müller ein.
Geisel: "Der Bundestag war nie ohne Schutz"
Innensenator Andreas Geisel (SPD) bezeichnete die Ereignisse vor dem Reichstagsgebäude in der Abendschau des rbb als "beschämenden Vorgang". Das dürfe nicht wieder passieren, sagte er am Montagabend. "Wir müssen das für die Zukunft ausschließen." Die Polizei habe bei den Protesten gegen die Corona-Politik am gesamten Wochenende in Berlin einen "hervorragenden" Job gemacht. "Der Bundestag war nie ohne Schutz und die Situation war ganz schnell beseitigt. Aber natürlich muss man das einsatztaktisch auswerten."
Demonstranten hatten am Samstagabend zunächst Absperrgitter am Reichstagsgebäude überwunden. Sie stürmten anschließend die Treppe hoch. Dabei waren die auch von den sogenannten Reichsbürgern verwendeten schwarz-weiß-roten Reichsflaggen zu sehen, aber auch andere Fahnen. An der Aktion waren nach Polizeiangaben etwa 300 bis 400 Menschen beteiligt. Anfangs standen nur drei Polizisten direkt am Westeingang des Reichstagsgebäudes der Menge gegenüber. Nach wenigen Minuten kam Verstärkung und die Polizei drängte die Menschen auch mit Hilfe von Pfefferspray zurück.
Müller und Geisel fühlen sich im Nachhinein bestätigt
Die Berliner Polizei hatte die Berliner Corona-Demonstration zunächst verboten, Gerichte hatten das Verbot aber gekippt. Müller verteidigte das Vorgehen der Politik. "Wir können nicht sorglos alles zulassen", betonte er. Es sei ja das Wesen dieser Demonstrationen, bewusst gegen Auflagen zu verstoßen. Die Politik müsse nicht nur das Demonstrationsrecht garantieren, sondern auch den Gesundheitsschutz durchsetzen.
Auch Innensenator Geisel verteidigte in der Abendschau das Vorgehen der Versammlungsbehörde. Im Nachhinein zeige sich, dass Berlins zuständige Behörden die Sicherheitslage richtig eingeschätzt hätten, so Geisel. Etlichen Demonstranten sei es allein darum gegangen, Gesetze zu brechen und den Infektionsschutz nicht zu befolgen. Darauf habe die Verbotsverfügung der Polizei abgezielt, die dann von Gerichten gekippt wurde.
Roth will keine Abschottung des Bundestags
Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) hat sich dagegen ausgesprochen, den Bundestag mit Zäunen zu sichern. Roth sagte am Dienstag im Inforadio des rbb, das Parlament müsse ein offenes Haus bleiben und dürfe nicht wie eine Zitadelle geschützt werden.
Überlegungen für bauliche Veränderungen wie Sperren oder Wassergräben oder eine Ausweitung der Bannmeilen-Regelung lehnte Roth ab. Diesen Gefallen sollte man den Rechtsextremen und Demokratiefeinden nicht tun. Es müsse aber das Polizeikonzept überdacht werden, um Situationen wie am Wochenende zu verhindern. Roth warnte davor, die Demonstranten zu verharmlosen. Sie kritisierte Bundesinnenminister Seehofer, der von "Chaoten" und einem "bunten Haufen" gesprochen hatte.
"Corona-Protestbewegung hat ihre Unschuld verloren"
Grundsätzlich nehmen die Warnungen vor einem wachsenden Einfluss von Rechtsextremen auf die Demonstrationen zu. "Seit den ersten Hygiene-Demonstrationen verfestigt sich der Einfluss rechtsextremer Gruppen auf die Corona-Protestbewegung", sagte der GdP-Vizevorsitzende Jörg Radek den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstag). "Die Rechten sind dabei, die Bewegung komplett zu kapern."
Seit dem vergangenen Wochenende habe die Corona-Protestbewegung ihre Unschuld endgültig verloren. "Jetzt kann niemand mehr sagen, er sei nur ein Mitläufer. Jeder, der jetzt noch dabei bleibt, muss sich die Frage stellen, ob er sich mit den Rechtsextremisten gemein machen will und seine persönlichen Sorgen in der Corona-Krise mit den demokratiefeindlichen Zielen der Extremisten verbinden will", sagte der Polizeigewerkschafter.
Spahn: "Was ist da los?"
Auch der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, zeigte sich besorgt. "Seit Monaten werden in der Corona-Debatte Verschwörungsmythen mit antisemitischer Grundtendenz bewusst geschürt", sagte Schuster der Bild-Zeitung. Dafür machte er unter anderem "sehr rechte und rechtsextreme Gruppen" verantwortlich, die sich unter die Demonstranten gemischt hätten.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte im ZDF-"heute journal", er erlebe sowohl berechtigte Fragen und die Bereitschaft zum Zuhören, aber auch Hass und Verschwörungstheorien. "Was mich echt beschäftigt, ist, dass die Regenbogenflagge, die Flagge von Freiheit, Recht, Emanzipation der Schwulenbewegung, auf der gleichen Demo wie die Reichsflagge ist und die Nazi-Symbole - da fragt man sich schon, was ist da los?" Spahn mahnte zugleich, die Bilder aus Berlin dürfe man "nicht als Gesamtstimmung im Land nehmen".
Sendung: Inforadio, 01.09.2020, 6:40 Uhr