Interview | Berliner Journalistin in Kiew - "Die Menschen warten auf die angekündigten harten Sanktionen"
Die Lage in der Ukraine spitzt sich zu, seit der russische Präsident zwei Gebiete als unabhängige Staaten anerkannt hat. Die Berliner Journalistin Rebecca Barth ist in Kiew. Im Interview erzählt sie, wie es den Menschen geht und was sie vom Westen erwarten.
rbb|24: Rebecca, am Montag hat der russische Präsident Wladimir Putin die selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten anerkannt und noch am selben Abend Truppen in die Region entsand. Du verfolgst die Situation vor Ort seit Wochen. Was hat sich in der Ukraine und in Kiew danach verändert?
Rebecca Barth: Besonders Putins TV-Ansprache - also die einstündige Geschichtsvorlesung des russischen Präsidenten - hat bei den Menschen hier große Verunsicherung, Wut, teilweise auch Angst ausgelöst.
Generell muss man das auch ein wenig auseinanderdröseln. Also mit der Anerkennung als unabhängige Staaten haben viele Menschen in der Ukraine schon gerechnet. Das ist nichts Gutes. Aber die Menschen erwarten nach acht Jahren Krieg von Russland sowieso nichts Positives mehr.
Dass das aber mit dieser Rede kommt, in der der Ukraine ihre Eigenständigkeit und Geschichte abgesprochen, sie als künstliches Konstrukt hingestellt wird, welches Lenin erfunden habe, von der eine Gefahr ausgehe und die von westlichen Geheimdiensten kontrolliert werde, hat bei einigen Leuten Wut ausgelöst.
Viele haben auch die Angst, dass es um weit mehr als die offizielle Kontrolle dieser Gebiete in der Ostukraine geht. Viele fürchten um eine Eskalation der Kämpfe, dass es Putin um die russische Kontrolle der gesamten Ukraine oder großer Teile geht. Vorher war das hier nicht so. Es gab immer nur die Warnungen amerikanischer Geheimdienste diesbezüglich. Man hat das hier lange nicht ernst genommen, weil man sich das einfach nicht vorstellen konnte.
Würdest du so weit gehen zu sagen, dass Putins Rede als Kriegserklärung wahrgenommen wird, in der er die ostukrainischen Gebiete anerkannt und Truppen dorthin entsandt hat?
Nicht unbedingt - es gibt derzeit mehrere Szenarien, die auf dem Tisch liegen. Zum einen bedeutet die Anerkennung der Gebiete durch Putin im Endeffekt, dass der Minsker Friedensprozess tot ist. Das kann man so schon als Kriegserklärung verstehen.
Aber auf ukrainischer Seite war man mit Minsk auch nicht glücklich, weil es von einigen als Druckmittel Moskaus angesehen wurde. Dementsprechend gab es Stimmen hinter verschlossenen Türen, die gesagt haben, dass das jetzt vielleicht gar nicht so schlecht sei, weil man es nun offiziell hat, dass Minsk tot ist.
Zum anderen wissen wir aber noch gar nicht, um welche Gebiete es in der Anerkennung tatsächlich geht. Denn die "Donezker und Luhanska Volksrepubliken" beanspruchen ein viel größeres Territorium, als welches sie aktuell kontrollieren. Die Bezirke/Oblasten sind eigentlich sehr viel größer. Die "Volksrepubliken" machen aktuell nur ein Drittel der wirklichen Oblasten Luhansk und Donezk aus.
Wenn feststehen sollte, dass die russische Führung die "Volksrepubliken" in dem von ihnen beanspruchten Gebiet als unabhängige Staaten anerkennt, dann kann man das als Kriegserklärung sehen. Denn dann muss man damit rechnen, dass weitere Gebiete erobert werden sollen. Bisher hört man dazu nur Widersprüchliches und das ist eine große Gefahr.
Wie gehen die Menschen allgemein in Kiew und der Ukraine mit der neuen Situation um?
Das ist sehr schwierig abzuschätzen. Die Leute sind verunsichert, sie sind angespannt, vor allem im Osten. Dort wird an einigen Stellen geschossen. Die Menschen haben Angst.
Hier in Kiew bin ich mir noch nicht ganz sicher. Es gibt in der Stadt zunehmend Gespräche, Kiew zu verlassen. Aber ich kann aktuell noch keine große Panik oder einen Ausnahmezustand erkennen. Aber das wird sich im Laufe der Zeit entwickeln. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ruft die Menschen dazu auf, ruhig zu bleiben. Er hat sich am Montag noch in der Nacht mit einer Ansprache an die Ukrainerinnen und Ukrainer gewandt. Er sagte, es gebe keinen Grund dazu, schlaflose Nächte zu haben, und er gehe nach wie vor nicht von einer großen Invasion aus.
Wie haben junge Ukrainer auf Putins Ansprache reagiert?
Ich bin seit 2014 in diesem Land unterwegs und ich habe noch nie eine derartige Wut erlebt wie am Montagabend während Putins Rede. Es macht den Menschen Angst. Sie können nicht nachvollziehen, wie es noch einmal passieren kann, dass ein fremder Staat einfach daher geht, Teile des eigenen Staates als unabhängig erklärt und es ihnen damit wegnimmt. So haben sie es verstanden. Sie haben aber auch die Befürchtung, dass es sich um die Vorbereitung einer kompletten Annexion handeln könnte.
Eigentlich hatten viele Menschen hier die Hoffnung im Gegensatz zur Krim, die von Russland 2014 annektiert wurde, dass der Donbass irgendwann wieder in die Ukranie zurückkommt. Und diese Hoffnung schwindet jetzt.
Was erwarten Ukrainerinnen und Ukrainer vom Westen jetzt militärisch?
Präsident Selenskyj hat es letzte Nacht schon gesagt: Jetzt wird sich zeigen, wer wirklich ein echter Freund der Ukraine ist. Der Westen hat in den letzten Wochen ganz harte Sanktionen angekündigt, von denen man nicht immer wusste, was damit genau gemeint ist. Und aus ukrainischer Sicht haben wir jetzt die Invasion in der Ostukraine, vor der so lange gewarnt wurde. Russische Truppen haben offiziell die Grenze überschritten und jetzt wird sich zeigen, inwieweit der Westen seine Worte halten wird.
Ich glaube, militärisch erwartet dieses Land nichts mehr. Es gab ganz viele Waffenlieferungen von einigen Staaten. Aber es gab auch schon vor Wochen eben die ganz klare Ansage, niemand wird für euch kämpfen. Das ist den Menschen hier bewusst. Die vergangenen Wochen haben da auch zu einer Desillusionierung geführt. Aber die Menschen warten auf die angekündigten harten Sanktionen. Diese sollten aus ukrainischer Sicht auch bald kommen.
Was erwartet die Ukraine gerade von Deutschland?
Die Absage von "Nord Stream 2" hat man hier schon vor Ewigkeiten erwartet. "Nord Stream 2" war nie ein Projekt, über das die Menschen und auch die Regierung hier sonderlich glücklich waren. Viele haben dies nicht verstanden. Einige sagen auch, wenn Deutschland es wirklich ernst mit der Härte gegenüber Russland oder der Solidarität mit der Ukraine meint, dann verstehen wir überhaupt nicht, warum Deutschland so ein Projekt anfangen. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz "Nord Stream 2" jetzt auf Eis legt, erfüllt, so glaube ich, hier die Mindesterwartungen.
Wie lange wirst du in Kiew bleiben? Wann ist der Punkt erreicht, dass du die Ukraine verlässt?
Ich kann sie derzeit nicht beantworten. Ich möchte so lange wie möglich hierbleiben und berichten. Ich würde auch gerne eigentlich in die Ostukraine, aber wir müssen es natürlich von der aktuellen Sicherheitslage abhängig machen. Und die verändert sich stündlich. Und deswegen treffe ich auch stündliche Entscheidungen.
Ich würde fluchtartig die Ukraine verlassen, wenn es einen großen Angriff auf Kiew geben würde, wo ich mich aktuell befindet. Von diesem Szenario gehe ich aktuell aber nicht aus.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Grit Lieder.