Berliner Gesundheitsämter - "Das ist ungefähr das Gegenteil von Digitalisierung"

Fr 26.02.21 | 21:20 Uhr | Von Sabine Müller
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Mitarbeiter des Gesundheitsamtes Mitte mit Gesichtsschutzschirm telefonieren im Lagezentrum des Gesundheitsamt Mitte (Bild: dpa/Britta Pedersen)
Bild: dpa/Britta Pedersen

Bis zu diesem Wochenende sollen eigentlich alle deutschen Gesundheitsämter die einheitliche Corona-Software "Sormas" einführen. Bundesweit klappt das nicht, das ist längst klar. In Berlin angeblich schon - doch die Realität sieht anders aus. Von Sabine Müller

Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) klang mächtig stolz, als sie vor knapp zwei Wochen im Gesundheitsausschuss über die "gute Situation" in Berlin referierte. Da machten gerade Zahlen die Runde, bundesweit wolle nicht einmal jedes zweite Gesundheitsamt die Corona-Kontaktnachverfolgungs-Software "Sormas" einführen, mit der Daten über Stadt- und Landesgrenzen hinweg ausgetauscht werden können. Für Berlin meldete Kalayci dagegen 100 Prozent Erfolgsquote, alle zwölf Bezirke führten "Sormas" ein, sagte sie. Acht arbeiteten schon mit der Software, vier seien noch in der Einführungsphase.

Doch in der Praxis zeigt sich, dass nicht 100 Prozent der Berliner Gesundheitsämter hinter dem Projekt stehen.

Gelobt und gehasst

Auf der einen Seite gibt es die glühenden Verfechter von "Sormas", wie Nicolai Savaskan, den Amtsarzt von Neukölln. Er sieht "Sormas" als den großen Wurf, die Software, die alle 375 Gesundheitsämter in Deutschland in der Lage versetzt, untereinander zu kommunizieren: "Wenn man sich anschaut, was uns 'Sormas' beschert, dann ist das quasi einmalig in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit, weil wir jetzt die Möglichkeit haben, mit einer Lösung ins 21. Jahrhundert zu treten."

Auf der anderen Seite gibt es Amtsärzte wie Patrick Larscheid aus Reinickendorf, der "Sormas" für einen Rückschritt gegenüber dem System hält, das er benutzt: "Diese Software ist überhaupt nicht besser als das Vorhandene und keiner versteht so recht: Wieso sollen wir ein System, mit dem wir alle zu arbeiten trainiert sind, tauschen gegen ein anderes System, das wir gar nicht wollen, das wir aber politisch gezwungen sind zu benutzen?"

Larscheid nutzt "SurvNet", eine Software des Robert-Koch-Instituts (RKI), und lobt, die könne viel mehr als "Sormas" vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Sie erlaube zum Beispiel viel genauere Eingaben etwa zu Virus-Mutationen und sie habe Schnittstellen zu anderen wichtigen Software-Systemen, die "Sormas" fehlten. Dort sehe Datenübertragung in ein anderes System so aus, dass ein Mensch händisch an der Tastatur Eingaben machen müsse.

"Das ist aus unserer Sicht so ungefähr das Gegenteil von Digitalisierung", kritisiert Larscheid. Nicolai Savaskan betont, "Sormas" bekomme diese Schnittstellen bald, und er lobt, als Open-Source-Software könne "Sormas" von jedem Gesundheitsamt so umprogrammiert werden, wie es vor Ort gebraucht werde. Außerdem sei das Programm auf mobilen Endgeräten einsetzbar, gut, um etwa vor Ort einen Corona-Ausbruch nachzuverfolgen: "Wenn die Hygienekontrolleure ein Tablet haben, dass sie damit unterm Arm zum Ausbruchsort fahren können, dort die Analysen machen und gleichzeitig die Datendokumentation vor Ort betreiben können."

"'Einführen" ein dehnbarer Begriff

Den Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid überzeugt all das nicht. Er macht sehr klar, dass er nicht vorhat, sich und seine Mitarbeiter auf "Sormas" umzuschulen und die Software in seinem Gesundheitsamt zu nutzen. Dass Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci freudig verkündet hatte, auch der Bezirk Reinickendorf habe eine Absichtserklärung unterschrieben, "Sormas" einzuführen, quittiert er mit einem Grinsen. Natürlich könne man Absichten erklären, das sei nicht verboten und "Einführung", das sei doch ein dehnbarer Begriff. Larscheid betont, er wolle "verantwortliches Arbeiten" in einer akuten Stress-Situation und das schließe aus, mitten in einer Pandemie das Arbeitsgerät umzustellen. "Das ist nicht klug", so Larscheid.

"Sormas" als Revolution für die Zukunft?

Währenddessen denkt der Neuköllner Amtsarzt Nicolai Savaskan bei "Sormas" schon längst über einen Einsatz nur im Infektionsschutz hinaus nach. Er sagt, würde sich wünschen, dass mit der Software mittelfristig alle fünf Bereiche der Gesundheitsämter vernetzt werden, also auch Kinder- und Jugendmedizin oder die Betreuung chronisch kranker Menschen. Da liefen zurzeit nicht nur bundesweit, sondern selbst in einzelnen Gesundheitsämtern viele verschiedene Software-Varianten parallel. Seine Vision sieht so aus, "dass wir eben dieselbe Sprache in einem Gesundheitsamt sprechen". Das ist sozusagen die große Verheißung bei "Sormas".

Der Reinickendorfer Patrick Larscheid zweifelt den Nutzen einer solchen Komplettvernetzung an, es gebe gut funktionierende Systeme und keine Notwendigkeit, jetzt alles auf den Kopf zu stellen oder wegzuwerfen. Auch vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung kommt keine Zustimmung für Savaskans große "Sormas"-Träume. Für eine solche Ausweitung gebe es keinerlei Pläne, sagte eine Sprecherin dem rbb.

Zum aktuellen "Sormas"-Einführungsstand sagt die Sprecherin, inzwischen hätten etwa 250 der 375 deutschen Gesundheitsämter die Software installiert. Wie viele dieser Ämter auch tatsächlich mit "Sormas" arbeiten, dazu gibt es allerdings keine genauen Zahlen.

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Beitrag von Sabine Müller

47 Kommentare

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  1. 47.

    Ich habe geschrieben: Oben und/oder unten, meint: von Bundesgesundheitsminster bis Gesundheitsamtsleiter. Ich kann von außen nicht beurteilen, wie und durch wen der Beschluss der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin vorbereitet wurde, was da abgestimmt und geklärt wurde und was nicht, wie die Umsetzung organisiert ist. Ich kann auch nicht die Arbeit der Ämter als Insider beurteilen oder SORMAS bzw. andere IT-Lösungen bewerten. Keine Ahnung, ob und wer recht hat. Ich stelle aber den Widerspruch fest zwischen mehrfachen Beschlüssen aller Regierungschefs unsers Landes und örtlicher Verweigerungshaltung. Das geht nicht! Die Bewältigung der Pandemie geht nicht mit Beamten-Mikado.

  2. 46.

    Ist Kleinstaaterei bei einer bundesweiten Pandemie zielführend?

    Das hier wurde von der Bundeskanzlerin und den Regierungschefs der Länder, darunter Hr.Müller, am 19.01. und 10.02.21 beschlossen: "Die Länder werden durch entsprechende Vorgaben sicherstellen, dass künftig alle Gesundheitsämter SORMAS und DEMIS nutzen. Der Bund wird die dafür erforderlichen technischen Ressourcen bereitstellen. Bis Ende Februar soll SORMAS in allen Gesundheitsämtern installiert werden." Lesen Sie die Beschlüse bitte durch, passt nicht alles hier in 1000 Zeichen.

    Würden Sie nicht erwarten, dass vorbereitet und umgesetzt wird, was alle Regierungschefs des Landes gemeinsam beschließen?

  3. 45.

    Rischtisch... der Bezirksämter und nicht die eines größenwahnsinnigen Amtsarzt, der seine Kompetenzen überschreitet.

  4. 44.

    Sie haben es ja immer noch nicht kapiert... Infektionsschutz ist und bleibt Zuständigkeit der Kommunen, in Berlin der Bezirksämter. Das wurde aber nun schon das ganze Pandemiejahr durchgekaut. Und auch kritisiert. Aber es ist so.

  5. 43.

    Die MP-Konferenz hat das nur EMPFOHLEN, da die Entscheidungshoheit für die eingesetzte Software bei den Landkreisen und Bezirksämtern liegt ! War kürzlich in der Wirtschaftswoche nachzulesen ...

  6. 42.

    Danke. Genau so habe ich #2 gemeint. Was bildet sich der Mann ein, wer er ist?

  7. 41.

    Das mit XP war scherzhaft als Antwort gemeint.
    Eine JRE kann als virtueller Computer unabhängig vom OS locker genutzt werden - ist ja auch Sinn der Sache. Lediglich die Laufzeitumgebung muss auf dem verwendeten Betriebssystem installiert sein. Bei Java kein Problem. Für die Nutzung von Sormas sind minimale Vorgaben zu erfüllen. https://www.sormas-oegd.de/sormas-covid-19-nutzen/
    Will man jedoch einen eigenen Server aufsetzen, wirds etwas umfangreicher. Anstelle der JRE muss das JDK verwendet werden. Dies ist aber hier nachlesbar, inkl. Anleitungen etc.
    https://github.com/hzi-braunschweig/SORMAS-Project/blob/development/SERVER_SETUP.md
    Die Bedenken hinsichtlich der EJBs teile ich.

  8. 40.

    Sie fordern, das Köpfe rollen sollen ! Würde das auch auf Teile oder sogar der gesamten Bundesregierung zutreffen oder nur für nachgeordnete Führungsebenen ?

  9. 39.

    Wir haben eine Pandemie nationaler Tragweite und kein Einzel-Problem in irgendeinem Berliner Bezirk. Alle Ministerpräsidenten beschließen, dass deshalb bundesweit ein einheitliches System genutzt werden soll und wird. Und trotzdem glaubt jeder dritte Amtsleiter, er könne machen was er will. In jedem Unternehmen würden Köpfe rollen. Oben und/oder unten.

  10. 37.

    Das war die passende Antwort auf "Vielleicht sollten Sie sich selbst entlassen, dann wär auch gut !"

    Und ich muß mir hier noch ganz andere Dinge gefallen lassen, irgendwann ist einfach mal gut.

  11. 36.

    na dann kann die dritte welle ja kommen wenigstens die gesundheitsämter sind vorbereitet.

  12. 35.

    Im Grunde war das ganz einfach : Mit Beginn der zweiten Welle wurden die Probleme mit der Nachverfolgung auf Basis selbstgebauter Lösungen immer größer. Sormas existierte, war jedoch nicht zentral an COVID-19 angepasst. Nächstes Problem : Sormas läuft auf Linux, während die Verwaltungen für ihre Fachverfahren eine Windows-Umgebung haben. Im November gaben die Gesundheitsminister die Empfehlung zur Einführung von SORMAS, und es wurden auch Serverinstanzen mit Sormas bereitgestellt. Nur dauerte das eine Weile und mittlerweile surften wir auf der zweiten Welle. Die GAs hatten genug mit der Personalaquise und Einarbeitung zu tun und die IT-Abteilungen waren auch eingeschränkt, weil Home-Office und Schulen auch zu betreuen waren. Der Bund hat mittlerweile auch ein elektronisches Patiententagebuch für die GAs lizensiert, dass den MAs eine Menge Nachverfolgungsanrufe ersparen kann. Dazu kommen etliche andere Softwarelösungen, die jetzt nach und nach integriert werden...

  13. 34.

    Na ich tippe mal auf politischen Willen und fehlende Praxiskenntnisse. Auch ein Onlineantrag hilft den Mitarbeitern/ innen nicht,wenn die Daten nicht automatisch ins Fachverfahren übernommen werden sondern händisch eingegeben werden müssen. Sieht in der Außenwirkung ( ohne Internainfos) aber toll aus und ist eben politisch gewollt.

  14. 33.

    "Entlassen und gut ist" und "Ein Amtsarzt hat das nicht zu entscheiden, wenn er 100x Recht hat" ist in meinen Augen extrem anmaßend und überheblich ! "

    Ich kann da keine Überheblichkeit von mir erkennen, das ist einfach meine Meinung und das zweite eine folgerichtige Feststellung. Der Mann wird von Steuergeldern bezahlt und hat seine Arbeit zu verrichten und nicht um mit Starallüren seine eigene Ziele zu verfolgen.

    "Und er wird wohl nichts ohen Rücksprache mit seinem GA-Leiter machen." Da bin ich mit nach dem Auftritt in der "heute-show" absolut nicht sicher. Der Mann ist ein Selbstdarsteller ala Boris Palmer. Das kann er gerne machen, wenn er in die Politik geht, als Amtsarzt nicht. Da überschreitet er deutlich seine Kompetenzen.

  15. 31.

    Softwareneustarts laufen nie problemlos, es liegt an Programmierfehlern, Bedienerfehlern, Verständnisfehlern für die Erfordernisse des Sachgebietes und an einer lockereren Einstellung der Programmierer zur neuen Software. In den 80ern hatte der Programmierer noch den Ehrgeiz, fehlerlose Programme abzuliefern, heute herrscht die Updatekultur, wenn’s nicht passt. Auch die Probleme der Integrierung von verschiedenen Programmen zu einem System werden unterschätzt. Zu der neuen Softwaredatenlieferung braucht man neue Bediener, die die Software im Schlaf auch unter Termindruck beherrschen und daran fehlt es meistens auch. Es wäre bestimmt ein Vorteil gewesen, wenn anfangs eine Umstellung der Zettelwirtschaft in ein vom RKI vorgegebenes Standard-Excelmodell vollzogen worden wäre. Der Vorteil bei Excel, es gibt eingefuchste Mitarbeiter. Und ein einheitlicher Modellstandard hätte die Zusammenführung der Daten erleichtert. Denn Standardisierung reduziert die Komplexität dieses Prozesses.

  16. 29.

    Es wird also mitten in einer Ausnahmesituation der Gesundheitsämter ein neues Programm eingeführt, um während dieser Ausnahmesituation besser miteinander kommunizieren zu können. Klar ist, dass das zunächst doppelte Belastung (Schulungen, Bugs, Nachprogrammieren usw.) bedeuten würde, selbst wenn die Schnittstellen schon da wären. Man kann also davon ausgehen, dass das Programm den Zweck, schneller und effektiver zu sein inkl. Austausch mit anderen Ämtern, erst nach der Pandemie erfüllen kann. Heißt, es stellt keinen Fortschritt in der derzeitigen Situation dar, dürfte die Arbeit gar verlangsamen.
    Ich habe keine konkrete Vorstellung, was das sein könnte, aber folgerichtig muss es einen anderen Grund für die Einführung gerade jetzt mit Wirkung nach der Pandemie geben. Hat jemand eine Idee?

  17. 28.

    Zum Thema Überheblichkeit zwei Zitate von Ihnen :

    "Entlassen und gut ist" und "Ein Amtsarzt hat das nicht zu entscheiden, wenn er 100x Recht hat" ist in meinen Augen extrem anmaßend und überheblich !

    Nun zum fachlichen : Sormas ist nicht schlecht, insofern hat auch der Neuköllner Amtsarzt Recht. Die Migration von einem bestehenden System zu Sormas ist aufgrund von verschiedenen Datenmodellen äußerst schwierig, auch weil Sormas im Moment etwas hinterher hing, was die Erfassung von Imfungen und Virus-Mutationen anging. Auch verschiedene andere Sachen wie Briefanreden für Bescheide waren noch nicht an deutsche Verhältnisse angepasst.
    Auf Herrn Larscheidt herumzuhacken ist einfach nur bescheuert. Der musste vor Ort Lösungen finden, wie alles zu stemmen ist, da war kein D.Kalayci behilflich. Und er wird wohl nichts ohen Rücksprache mit seinem GA-Leiter machen.

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