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Quelle: dpa/Britta Pedersen

Berliner Gesundheitsämter

"Das ist ungefähr das Gegenteil von Digitalisierung"

Bis zu diesem Wochenende sollen eigentlich alle deutschen Gesundheitsämter die einheitliche Corona-Software "Sormas" einführen. Bundesweit klappt das nicht, das ist längst klar. In Berlin angeblich schon - doch die Realität sieht anders aus. Von Sabine Müller

Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) klang mächtig stolz, als sie vor knapp zwei Wochen im Gesundheitsausschuss über die "gute Situation" in Berlin referierte. Da machten gerade Zahlen die Runde, bundesweit wolle nicht einmal jedes zweite Gesundheitsamt die Corona-Kontaktnachverfolgungs-Software "Sormas" einführen, mit der Daten über Stadt- und Landesgrenzen hinweg ausgetauscht werden können. Für Berlin meldete Kalayci dagegen 100 Prozent Erfolgsquote, alle zwölf Bezirke führten "Sormas" ein, sagte sie. Acht arbeiteten schon mit der Software, vier seien noch in der Einführungsphase.

Doch in der Praxis zeigt sich, dass nicht 100 Prozent der Berliner Gesundheitsämter hinter dem Projekt stehen.

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Auf der einen Seite gibt es die glühenden Verfechter von "Sormas", wie Nicolai Savaskan, den Amtsarzt von Neukölln. Er sieht "Sormas" als den großen Wurf, die Software, die alle 375 Gesundheitsämter in Deutschland in der Lage versetzt, untereinander zu kommunizieren: "Wenn man sich anschaut, was uns 'Sormas' beschert, dann ist das quasi einmalig in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit, weil wir jetzt die Möglichkeit haben, mit einer Lösung ins 21. Jahrhundert zu treten."

Auf der anderen Seite gibt es Amtsärzte wie Patrick Larscheid aus Reinickendorf, der "Sormas" für einen Rückschritt gegenüber dem System hält, das er benutzt: "Diese Software ist überhaupt nicht besser als das Vorhandene und keiner versteht so recht: Wieso sollen wir ein System, mit dem wir alle zu arbeiten trainiert sind, tauschen gegen ein anderes System, das wir gar nicht wollen, das wir aber politisch gezwungen sind zu benutzen?"

Larscheid nutzt "SurvNet", eine Software des Robert-Koch-Instituts (RKI), und lobt, die könne viel mehr als "Sormas" vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Sie erlaube zum Beispiel viel genauere Eingaben etwa zu Virus-Mutationen und sie habe Schnittstellen zu anderen wichtigen Software-Systemen, die "Sormas" fehlten. Dort sehe Datenübertragung in ein anderes System so aus, dass ein Mensch händisch an der Tastatur Eingaben machen müsse.

"Das ist aus unserer Sicht so ungefähr das Gegenteil von Digitalisierung", kritisiert Larscheid. Nicolai Savaskan betont, "Sormas" bekomme diese Schnittstellen bald, und er lobt, als Open-Source-Software könne "Sormas" von jedem Gesundheitsamt so umprogrammiert werden, wie es vor Ort gebraucht werde. Außerdem sei das Programm auf mobilen Endgeräten einsetzbar, gut, um etwa vor Ort einen Corona-Ausbruch nachzuverfolgen: "Wenn die Hygienekontrolleure ein Tablet haben, dass sie damit unterm Arm zum Ausbruchsort fahren können, dort die Analysen machen und gleichzeitig die Datendokumentation vor Ort betreiben können."

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"'Einführen" ein dehnbarer Begriff

Den Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid überzeugt all das nicht. Er macht sehr klar, dass er nicht vorhat, sich und seine Mitarbeiter auf "Sormas" umzuschulen und die Software in seinem Gesundheitsamt zu nutzen. Dass Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci freudig verkündet hatte, auch der Bezirk Reinickendorf habe eine Absichtserklärung unterschrieben, "Sormas" einzuführen, quittiert er mit einem Grinsen. Natürlich könne man Absichten erklären, das sei nicht verboten und "Einführung", das sei doch ein dehnbarer Begriff. Larscheid betont, er wolle "verantwortliches Arbeiten" in einer akuten Stress-Situation und das schließe aus, mitten in einer Pandemie das Arbeitsgerät umzustellen. "Das ist nicht klug", so Larscheid.

"Sormas" als Revolution für die Zukunft?

Währenddessen denkt der Neuköllner Amtsarzt Nicolai Savaskan bei "Sormas" schon längst über einen Einsatz nur im Infektionsschutz hinaus nach. Er sagt, würde sich wünschen, dass mit der Software mittelfristig alle fünf Bereiche der Gesundheitsämter vernetzt werden, also auch Kinder- und Jugendmedizin oder die Betreuung chronisch kranker Menschen. Da liefen zurzeit nicht nur bundesweit, sondern selbst in einzelnen Gesundheitsämtern viele verschiedene Software-Varianten parallel. Seine Vision sieht so aus, "dass wir eben dieselbe Sprache in einem Gesundheitsamt sprechen". Das ist sozusagen die große Verheißung bei "Sormas".

Der Reinickendorfer Patrick Larscheid zweifelt den Nutzen einer solchen Komplettvernetzung an, es gebe gut funktionierende Systeme und keine Notwendigkeit, jetzt alles auf den Kopf zu stellen oder wegzuwerfen. Auch vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung kommt keine Zustimmung für Savaskans große "Sormas"-Träume. Für eine solche Ausweitung gebe es keinerlei Pläne, sagte eine Sprecherin dem rbb.

Zum aktuellen "Sormas"-Einführungsstand sagt die Sprecherin, inzwischen hätten etwa 250 der 375 deutschen Gesundheitsämter die Software installiert. Wie viele dieser Ämter auch tatsächlich mit "Sormas" arbeiten, dazu gibt es allerdings keine genauen Zahlen.

Beitrag von Sabine Müller

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