Interview | Rolf Rosenbrock - Experte warnt vor Lockdown-Folgen für Kinder aus Suchtfamilien

So 14.02.21 | 08:16 Uhr
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Ein verzweifeltes Kind (Quelle: dpa/Robin Utrecht)
Video: Abendschau | 13.02.2021 | Freya Reiß | Bild: dpa-Symbolbild/Robin Utrecht)

Nahezu jedes fünfte Kind lebt in Deutschland in einer Familie mit Alkohol- oder anderen Suchtproblemen. Der Lockdown führt sie endgültig in die Sackgassse, warnt Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, im rbb-Interview.

rbb: Herr Rosenbrock, was ist das größte Problem von Kindern aus Suchtfamilien

Rolf Rosenbrock: Die Kinder und Jugendlichen haben keine verlässlichen Bezugspersonen. Sie erleben oft psychische oder körperliche Gewalt in der Familie. Was ihnen fehlt, ist ein sicherer Ort und Ansprechpartner, mit dem sie über ihre Probleme reden können. Und wir reden hier über zwei bis drei Millionen Kinder in Deutschland, deren Probleme in unserer Gesellschaft bislang kaum wahrgenommen werden. Diese Kinder bräuchten dringend mehr Aufmerksamkeit, vor allem im derzeitigen Lockdown, wo die sonstigen kleinen Fluchtmöglichkeiten dieser Kinder entfallen.

Welche Fluchtmöglichkeiten sind das?

Zum Beispiel die Schule. Für viele dieser Kinder ist die Schule ein Ort, an dem sie nicht mit den elterlichen Problemen konfrontiert sind, sondern mit Gleichaltrigen reden können. Allerdings muss ich dazu sagen, dass die meisten auch mit Freunden nicht über ihre Probleme reden, weil Abhängigkeitserkrankungen immer noch ein Tabu sind. Aber die Kinder oder Jugendlichen haben wenigstens die Möglichkeit, in der Schule einige Stunden am Tag mal frei von den häuslichen Problemen zu sein. Und das fällt durch den Lockdown zurzeit weg - genau wie die Möglichkeit, sich einfach mal mit Freunden zu treffen und abzuhängen. Die Kinder sind in dieser Situation zuhause und damit der Gewalt ihrer Eltern gnadenlos ausgeliefert.

Das klingt drastisch. Wie muss ich mir dieses Ausgeliefertsein vorstellen?

Ich habe einen guten Freund, der ist in einer solchen Familie aufgewachsen, der hat das mal so zusammengefasst: Du weißt nie, was im nächsten Augenblick passiert. Da kann sowohl die Situation eintreten, dass du blitzartig ausweichen musst, weil eine Bierflasche nach dir geworfen wird. Und im nächsten Moment sitzt dein tränenüberströmter Vater auf dem Sofa, zerrt dich auf seinen Schoss, sagt, was für ein schlechter Mensch er ist, und verspricht, dir eine elektrische Eisenbahn zu schenken. Das Schlimme daran ist, dass das Ganze überhaupt nicht berechenbar ist. Die Kinder sind dem ausgeliefert, dabei bräuchten sie stabile Strukturen, die ihnen Halt und Sicherheit geben.

Wenn Schulen, Sportvereine und die meisten Jugendclubs wegen des Lockdowns geschlossen sind, welche Möglichkeiten haben die betroffenen Kinder und Jugendlichen, um sich Hilfe zu suchen?

Für viele Kinder aus suchtbelasteten Familien ist das Internet heute das einzige Fenster zur Welt. Und das merken auch die Beratungsstellen von NACOA, der Interessenvertretung für Kinder von Suchtabhängigen: die Nachfrage nach Online-Beratungen ist seit Beginn der Pandemie sprunghaft gestiegen. Deshalb müssen diese Angebote auch ausgebaut und finanziell dauerhaft abgesichert werden. Aber wir brauchen auch konkrete Hilfen. Eine unserer zentralen Forderungen ist, dass Kinder Unterstützung erhalten, ohne dass vorher ein Antrag beim Jugendamt gestellt werden muss. So ein Antrag setzt regelmäßig das Einverständnis der Eltern voraus, und damit sind diese Kinder quasi in einem zweiten Lockdown, sie kommen da nicht raus.

Aber das größte Problem ist, dass diese Gruppe von Kindern aus Suchtfamilien in der Öffentlichkeit nicht bekannt ist. Und man kann sie nur bekannt machen, wenn man das Problem benennt. Wir müssen aufhören, Süchte weiter zu tabuisieren, sondern wir müssen sie als das benennen, was sie sind: eine Krankheit.

Wie kommt es, dass über die betroffenen Kinder und Jugendlichen bislang wenig gesprochen wird?

Das Problem ist, dass diese Kinder sich in der Regel nicht selbst sichtbar machen. Es braucht aufmerksame Beobachter, die erkennen: Hier ist ein Kind mit elterlichen Suchtproblemen, das kann sich nicht äußern, dem müssen wir Hilfe anbieten. Das heißt auch, dass ErzieherInnen, LehrerInnen und Menschen in Freizeiteinrichtungen geschult werden müssen, solche Kinder zu erkennen. Und sie müssen wissen, dass diese Kinder kein Mitleid brauchen, das sie nur schwächt, sondern eine Unterstützung, die sie stark macht.

Sie haben angedeutet, dass die Eltern oft das Problem sind. Heißt das, das eine Hilfe für die Kinder nur gegen die Eltern möglich ist?

Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Aber auf alle Fälle müssen wir die Familie als soziales System sehen. Wir können nicht einzelne Elemente aus diesem System heraustrennen und dann allein therapieren. Auf der einen Seite sind die Eltern die entscheidenden Machtfaktoren in der Familie, und um an sie besser ranzukommen, brauchen wir erst mal eine Entstigmatisierung ihrer Erkrankung. Auf der anderen Seite können wir darauf nicht warten, bis sie gesund sind, d.h. wir brauchen für die betroffenen Kinder eine Nothilfe und eine stabile Unterstützung durch verlässliche Bezugspersonen.

Herr Rosenbrock, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Matthias Bertsch.

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12 Kommentare

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  1. 12.

    Vielleicht wäre Corona auch eine Chance, die Kids online zu erreichen und sie in den kranken Familien zu stützen. Die Kinder werden eh immer mehr online unterwegs sein. Ich sehe darin auch eine Möglichkeit, die Wege zu verkürzen und zu vereinfachen. Wenn ein Kind konkret in einer Krisensituation ist, hätte es schnell einen Ansprechpartner. Vorausgesetzt es gibt einen guten online-Schutz gegen Missbrauch.
    Das Problem sehe ich nicht in zu teuren Sozialprojekten, sondern im Rotstift und in massiver staatliche Unterstützung von Alkohol. Und die Legalisierung von Cannabis ist auch nur eine Forderung der Cannabisindustrie-wollen wir neben aggressiven Alkoholikern noch ein Heer von Schizophrenen, als Folge vom Kiffen??

  2. 11.

    Experten .... Eigentlich warnen die doch ständig. Und alle Lösungen basieren darauf, dass der Steuerzahler individuelle Unzulänglichkeiten durch teure Projekte ausgleichen sollen.

  3. 10.

    Vielen Menschen ob arm ob reich, sind Werte wie Anstand, Ordnung und Fleiß abhanden gekommen bzw. besser bewusst aberzogen worden. Das rächt sich natürlich bitter.

  4. 9.

    Wenn der Klimawandel und das Artensterben weiter voranschreiten werden sich die Menschen wieder auf die wichtigen Dinge konzentrieren.
    Bei der Prohebition ging es nie um Gesundheit. Es ist eine Machtpolitische Enscheidung. Aus der perspektive funktioniert sie auch.
    Aus Gesundheitlicher und Menschlicher perspektive nicht. Im Gegenteil.

  5. 8.

    Von den Lockdownfolgen sind alle Kinder in erheblichen Ausmaß betroffen.

  6. 7.

    Es traurig, dass solch ein Verein auf Spenden angewiesen ist. Lieber baut man in Berlin/Potsdam Schlösser und Flughäfen.

  7. 6.

    Der beste Therapieansatz ist es, wenn man die Eltern viel viel mehr in die Pflicht nehmen könnte, sich zu kümmern. Dieser Druck kann auch helfen, aus der Sucht herauszukommen. Viel mehr moralischer und auch materieller Druck ist eine mächtige „Waffe“ im mächtigen Unterbewusstsein. Es gibt Dinge im Leben, die lassen sich nicht verlagern...

  8. 5.

    Vorher was tun, Kinder müssen beschützt werden und sicher aufwachsen können!!!

  9. 4.

    @Hust
    >Alkohol ist die enthemenste und gewalterzeugenste Droge
    Quantitav durch die vielen Betroffenen sicherlich ja, qualitativ nein. Trotzdem - ein striktes Werbeverbot für alkoholische Getränke in jeglicher Form (Bier, Sekt, Wein ...) im Fernsehn, Presse und Werbeflyern ist längst überfällig. Die eingenommen Steuern für den Staat wiegen bei weitem nicht den wirtschaftlichen und sozialen Schaden in der Gesellschaft auf.

  10. 3.

    Ein sehr guter Beitrag, der ganz wichtige Aspekte behandelt! Aber nicht nur suchtkranke, sondern auch psychisch kranke Eltern stellen für Kinder ein massives Problem dar.

  11. 2.

    Auch dieses Thema ist, genauso wie häusliche Gewalt,
    nicht unbekannt, es ist nur zu wenig beachtet worden und die Pandemie wirkt wie ein Brennglas.
    Es reicht eben nicht, dass der Staat mit seinen Unterstützungsprogrammen Eltern finanziell entlastet und für Kinderbetreuung sorgt,damit Eltern entlastet werden. Man muss versuchen sicherzustellen,dass es den Kindern gut geht. Deshalb darf bei der personellen Ausstattung von Jugendämtern nicht länger gespart werden, Jugend- und Freizeiteinrichtungen müssen langfristig finanziell abgesichert werden ,ebenso wie die dort eingesetzten Sozialarbeiter etc. Es macht keinen Sinn, staatliche Kinderbetreuung kostenlos anzubieten,statt die Eltern einkommensabhängig zu beteiligen,wenn deshalb zuwenig Geld für die Einrichtungen vorhanden ist.

  12. 1.

    Das Leid der Kinder hängt viel mit den völlig verfehlten Gesetzen zusammen. Alkohol ist die enthemenste und gewalterzeugenste Droge. Ein Albtraum für Kinder. Tabak zieht Kinder selbst durch passivrauchen in mitleidenschaft. Insofern in der Wohnung geraucht wird. Bei Illegalen Drogen wird oft die Illegalität und der damit verbundene Preis und das Problem genug Geld zu generieren zum eigendlichen Problem. Zudem erschwert die Illigaltät und die zum teil sehr verbreitete Stigmatisierung der Mitmenschen das inanspruchnehmen von Hilfe.
    Die aktuelle Drogenpolitik ist eine absolute Katastrophe für Kinder und Erwachsene.

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